Die Angst der Opposition im Exil
Präsident Lukaschenkos Repression fegte Tausende Regimegegner aus Belarus. Sie wollen auch nach der spektakulären Verhaftung des Polit-Aktivisten Roman Protassewitsch etwa von Polen und Litauen aus den Aufstand anheizen.
Die Todesdrohungen haben seit Roman Protassewitschs Verhaftung am Sonntag massiv zugenommen“, sagt Stepan Putilo, Gründer des Online-Kanals Nexta. Der 22-Jährige steht im weißen Hemd mit roter Krawatte im Belarussischen Haus und bemüht sich, wie er versichert, „ein letztes Mal“, die Fragen der Reporter zu beantworten. „Wir haben Polen um Personenschutz gebeten und ihn erhalten“, sagt er im Namen seiner rund zehnköpfigen Redaktion. „Ich kann die Zeit nicht mehr mit Interviews vertun, ich muss an eigenen Dingen arbeiten“, so Putilo.
Nexta (gesprochen: „Nechta“, übersetzt „Irgendjemand“) steht kurz vor der Veröffentlichung eines YouTubeFilms über Korruption und Geldwäsche des Regimes in Minsk. Und plötzlich ist die etwas verlassen wirkende modernistische Villa im Warschauer Diplomatenviertel Saska Ke˛pa im Zentrum des Medieninteresses. Quer über die Fassade gespannt wacht ein wackerer Ritter hoch zu Ross auf weiß-rot-weißem Grund. Es handelt sich um die „Pahonja“, das historische, von Präsident Alexander Lukaschenko (66) verbotene Wappen von Belarus.
Die Villa des Widerstands. Der Personenschutz ist nicht zu sehen. Ein halbes Dutzend Belarussen ist im Obergeschoß des großen Gebäudes, die meisten sitzen an Laptops. Ein Mitdreißiger im Parterre ist ihr Chef: Ales´ Zarembiuk, Leiter des Vereins Belarussisches Haus. Er will hier für die Stunde null neue Kader ausbilden.
Die Warschauer Villa wurde einen Monat nach Beginn der Proteste in Belarus vorigen Sommer von Polens Regierung für zehn Jahre an Swetlana Tichanowskaja, die belarussische Oppositionschefin und womögliche Wahlsiegerin von 2020, übergeben. Das Haus soll eine Hauptdrehscheibe des Widerstands gegen Lukaschenko werden und der Opposition einen sicheren Hafen bieten. Doch belarussische Aktivisten in Polen berichten schon seit Monaten, sie fühlten sich beschattet. Lukaschenkos einstiger Kulturminister, Pawel Latuschko, etwa sagte so etwas mehrfach.
Polens Regierung bietet solch bekannten Personen aus dem Nachbarland Schutz, doch die Hände des belarussischen KGB reichen weit, vor allem in Kooperation mit den russischen Kollegen.
Das führte auch der Fall Protassewitsch gerade vor Augen: Laut Tichanowskaja-Berater Franak Viacˇorka (siehe unten) ist dessen spektakuläre Verhaftung in Minsk aus einem zur Landung gezwungenen Ryanair-Flugzeug auch eine Warnung Lukaschenkos an alle Exilpolitiker und -Aktivisten. „Der belarussische KGB ist in Vilnius, Warschau und Kiew“, warnt Viacˇorka.
Die Rache des Regimes. Trotz der Drohkulisse kämpft das Belarussische Haus weiter an zwei Fronten gegen die Folgen der Repression in der Heimat. Es hilft den ankommenden politischen Flüchtlingen und den Opferfamilien der Polithäftlinge in Belarus (früher: „Weißrussland“). Nach den Prügelorgien auf der Straße, Folter in U-Haft und mindestens zehn Toten am Rand der Proteste übt der Staat nun Rache an jenen, die die bis Herbst dauernden Massendemonstrationen unterstützt haben. Gut 420 Personen wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt und werden von Menschenrechtsorganisationen als politische Gefangene anerkannt. Weiteren rund 2000 Menschen wird der Prozess wegen schwerer Delikte gemacht, bei denen es sich de facto meist um Lappalien handelt.
Immer mehr fliehen in Nachbarländer. Außer nach Russland, das sie wieder ausliefert. Niemand kennt genaue Daten. Laut Polens Ausländerbehörde gab es 2020 bei Asylanträgen aus Belarus ein Plus von 1000 Prozent. Ausgerechnet Protassewitschs Antrag wurde indes laut der Zeitung „Gazeta Wyborcza“im April 2020 aus formalen Gründen abgelehnt, worüber das Amt den heute weltbekannten Antragsteller erst fünf Monate später informierte.
Schon früh zur Ausreise gezwungen oder Hals über Kopf geflohen sind die Mitglieder des Präsidiums des oppositionellen Koordinationsrats von Tichanowskaja. Die Spitze der Opposition lebt heute in drei belarusnahen Städten: In Litauens Hauptstadt, Vilnius, sitzt Tichanowskaja mit ihrem Stab. In Riga (Lettland) hat sich Walery Zepkalo niedergelassen, ein weiterer Präsidentschaftskandidat und Gründer des Minsker ITParks. In Warschau sitzt mit Ex-Kulturminister Pawel Latuschko das einzige einst hohe Mitglied des Regimes im Koordinationsrat. Latuschko bearbeitet vor allem Lukaschenkos Apparat. Optimisten sehen in dem von dem Autokraten gekaperten System Tausende illoyale Duckmäuser, die nur darauf warten, abzuspringen oder Geheimgespräche mit Tichanowskaja aufzunehmen. Ebenfalls aus Warschau, teilweise direkt aus dem Belarussischen Haus, sendet der Kanal Nexta, der vor allem im vergangenen August die Proteste koordinierte. Bis zu einem internen Streit im Herbst war Protassewitsch der Chefredakteur, dann gründete er seinen eigenen Channel, Belamova, und zog nach Vilnius.
Demonstrationen auch in Österreich. Nach der erzwungenen Ryanair-Landung in Minsk haben Tichanowskaja und der Koordinationsrat neue Proteste in Belarus angekündigt. „Der Terror muss enden“, hieß es. Für heute und die nächsten Tage sind Solidaritätsaktionen auch in Wien und Städten in Deutschland geplant. Der Aktivist und Ex-Polithäftling Wiktor Navumau in Warschau ist überzeugt, dass im Sommer neue Massenproteste ausbrechen. Schätzungen, zwei Millionen Belarussen (ca. 22% der Bewohner) könnten ihre Heimat verlassen, hält er für realistisch. „Die Besten reisen aus, die Wirtschaft wird kollabieren. Und diese Proteste werden nicht mehr friedlich sein.“
Die USA kündigten am Freitag neue Sanktionen gegen Belarus an. Die EU hat welche in Planung und sperrte den Luftraum für Flieger aus Belarus. Und Aktivist Zepkalo startete eine Crowdfunding-Kampagne: Er will elf Millionen Dollar sammeln, als Belohnung für jene belarussischen Sicherheitskräfte, die Lukaschenko festnehmen.