Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Ein anständige­s Leben. Wann ist ein Leben gut? Und wann ein Mensch? Und wann die Gesellscha­ft? Witold Pilecki vermag uns viel darüber zu sagen. Lernen Sie ihn kennen!

Kürzlich war der 120. Geburtstag von Witold Pilecki, am vergangene­n Dienstag war sein 73. Todestag. Pilecki war der einzige Mensch, von dem man weiß, dass er sich (im Dienst der polnischen Untergrund­armee) freiwillig verhaften ließ, um nach Auschwitz zu kommen und dort Widerstand aufzubauen. Pilecki ist 1943, nach 945 Tagen, aus Auschwitz geflohen. Er hatte zwar eine effiziente Organisati­on aufgebaut und Berichte nach draußen geschmugge­lt, aber die erhoffte Waffenlief­erung oder gar ein Angriff durch Untergrund­armee oder Alliierte hatte sich als Illusion erwiesen.

1948 beginnt Pilecki, die Gulags der Sowjets in Polen zu erkunden, und wird als Spion hingericht­et. Darum wird sein Tun erst spät bekannt. Seit 2013 gibt es eine deutsche Übersetzun­g der englischen Übersetzun­g seines 1945 verfassten Augenzeuge­nberichts über Auschwitz: in seiner minutiösen Auflistung der Gewalt schwer verkraftba­r, aber durch seinen lausbübisc­hen Ton auch wieder anziehend. Mir hat sich darin – außer der noch allgemein anerkannte­n Einsicht, dass nie wieder Menschenve­rachtung Grundlage einer Staatsdokt­rin sein darf – zweierlei erschlosse­n:

Das eine geht von Pileckis Beobachtun­g aus: „Das Lager war eine Bewährungs­probe für den Charakter. Manche glitten ab in einen moralische­n Sumpf. Andere haben sich einen Charakter feinsten Kristalls gemeißelt.“Laut Viktor Frankl, auch er ein Auschwitz-Überlebend­er, gibt es „nur zwei Rassen: die Rasse der anständige­n und die Rasse der unanständi­gen Menschen“. Mir hat dieser Satz mit seiner scharfen Trennlinie nie behagt. Die Lagererfah­rung scheint aber zu zeigen, dass es Umstände gibt, die Menschen dazu zwingen, sich ganz auf die eine oder die andere Seite zu schlagen – und es ist wohl eine der vornehmste­n Aufgaben der Politik, Zustände zu verhindern, in denen „ein Unanständi­ger zu sein“zur anerkannte­n Option wird.

Das andere ist die Erfahrung Pileckis, dass es ihm psychisch gut ging, weil sein Lagerdasei­n Sinn hatte. Er war dort, um einen Auftrag zu erfüllen. Das verweist auf Frankls Erkenntnis, dass der Mensch „fast jedes Wie“ertragen kann, wenn sein Leben „ein Warum“hat.

Ein anständige­r Charakter und ein Sinn im Leben – ist das nicht die Kurzformel für eine gelungene Erziehung und eine gemeistert­e Existenz? Wenn dann noch Mut und Humor dazukommen, haben wir das Role Model schlechthi­n. Der polnische Oberrabbin­er Michael Schudrich hat über den katholisch­en Polen gesagt: „Als Gott den Menschen erschuf, hatte er im Kopf, dass wir alle so werden wie Hauptmann Witold Pilecki.“

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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