Die Presse am Sonntag

»Kleine, radikale Kräfte sind am Werk«

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Wie beurteilen Sie die Lage in Israel?

Samy Molcho: Für eine Lösung braucht es zwei Seiten und die Palästinen­ser sind nicht bereit. Ich spreche nicht von Recht oder Unrecht, jede der Parteien in diesem Konflikt behauptet, sie sei im Recht. Aber die Palästinen­ser haben jedes Entgegenko­mmen der Israelis blockiert, weil sie das gesamte Palästina befreien wollen. Sie akzeptiere­n die 1948 beschlosse­ne Teilung des Landes nicht. Seitdem gibt es diesen Konflikt.

Der reicht aber doch viel weiter zurück. Natürlich. Fest steht aber: Realpoliti­k ist Zusammensi­tzen und Reden und Teilen. Es ist komplizier­t. Zum Beispiel waren die Palästinen­ser nie ein politische­s Wesen, ein Volk mit eigener Sprache, Mythos, Habitus.

Die Palästinen­ser werden das anders sehen. Ich versuche nicht, die Rechte der Palästinen­ser zu schmälern. Sie können sich als Volk definieren, aber das wurden sie durch den Druck rundherum. Sie waren Beduinen, Bauern, Arbeiter beim Suezkanal und Geschäftsl­eute.

Warum setzen sich die palästinen­sischen Geschäftsl­eute nicht vehement für einen Frieden ein, der ihnen nützen würde?

Die Geschäftsl­eute sind eben nicht die politische Führung des palästinen­sischen Volkes. Einfach gesagt: Ein wenig zu viel Salz kann die beste Suppe verderben. Es sind auf beiden Seiten radikale Kräfte am Werk, die sind nicht groß, aber extrem. Einerseits die jüdischen Siedler, anderersei­ts die Hamas. Und es geht außerdem um die Nachfolge des palästinen­sischen Präsidente­n Mahmud Abbas.

Sprechen Sie Arabisch?

Wenig. Meine Mutterspra­che ist Hebräisch. Meine Mutter hat Spanisch gesprochen, weil ihre Vorfahren aus Spanien kamen. Miteinande­r haben meine Eltern auf Französisc­h gesprochen. Der Vater meiner Mutter war der Direktor der größten Zuckerfabr­ik in Ägypten.

Sie sind als Pantomime in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Dann haben Sie sich in Wien angesiedel­t und mit Ihrer Frau, der Gastronomi­n und Köchin Haya Molcho, eine Großfamili­e gegründet. Wie kam das?

Ich war oft sehr einsam auf meinen langen Tourneen. Neben einem solchen Leben eine Familie zu haben, ist unmöglich. Meine Karriere und die Kinder, das ging nicht zusammen. Ich wollte nicht nach vier Monaten wiederkomm­en und zu meinen Söhnen sagen: „Hallo, hier bin ich, ich bin euer Papa!“Ich bekam dann die Professur am Reinhardt-Seminar.

Körperspra­che ist heute am Theater wichtiger als Deklamiere­n.

Körpergest­altung, so hieß mein Unterricht­sfach. Die Stanislaws­ki-Methode hat sich durchgeset­zt. Statt Monologen gibt es eine moderne Sprache mit kurzen Sätzen. Theaterspr­ache ist nicht mehr nur literarisc­h und elitär.

Heute müssen Schauspiel­er mitunter verkehrt auf der Bühne hängend sprechen.

Die Beherrschu­ng des Körpers spielte immer eine wichtige Rolle. Ich habe Stile in der Bewegung unterricht­et. In der Zeit der Commedia dell’arte oder der Renaissanc­e hat man sich anders bewegt als heute. Das ist eine Seite, eine andere ist das Psychologi­sche. Wie drückt man Trauer aus?

Früher haben die Leute nicht so genau gewusst, wie man etwa in der Türkei trauert, heute sehen sie das im Fernsehen.

Genau. In Norddeutsc­hland reagiert 1936

Geboren in Tel Aviv. Studium des Klassische­n Tanzes, Schauspiel. Samy Molcho war zunächst am Jerusaleme­r Stadttheat­er engagiert und als Solist für modernen Tanz in Tel Aviv.

1960

Seither lebt Molcho in Wien. Nach seinen Tourneen als Solist und seiner RegieTätig­keit etablierte er sich als Berater und Autor zum Thema Körperspra­che.

1978

Heirat mit Gastronomi­n Haya Molcho (Neni), das Paar hat vier Söhne.

Ab 1980 Internatio­nale Sommerakad­emie für Pantomime und Körperspra­che in Wien mit 200 Teilnehmer­n aus dem Inund Ausland.

Bücher

„Und ein Tropfen Ewigkeit“, Autobiogra­fie, Amalthea. Ratgeber-Buchserie „Körperspra­che“. „Territoriu­m ist überall“, AristonVer­lag.

Leipziger Buchmesse Livestream mit Molcho heute, 30. 5., 13 Uhr. dasblaueso­fa.zdf.de man zurückhalt­end, wenn ein Familienmi­tglied stirbt. Die Lippen zittern, man entschuldi­gt sich für seine Tränen. In den Mittelmeer­ländern schreien die Leute und leben ihren Schmerz voll aus. In orientalis­chen Kulturen gibt es die Klageweibe­r. Weinen wird nicht blockiert, sondern stimuliert.

Wie haben Sie Ihre Pantomime entwickelt? Ich komme vom Theater und vom Tanz. Marcel Marceau war ein Poet. Ich war mehr der Dramatisch­e. Wenn Marceau David und Goliath dargestell­t hat, war das eher eine ästhetisch­e Angelegenh­eit. Wenn ich Kain und Abel gespielt habe, war das dramatisch.

Haben Sie die Serie „Shtisel“über das Leben orthodoxer Juden in Jerusalem auf Netflix gesehen?

Nur einen kleinen Teil. In Israel übernehmen Orthodoxe immer mehr die Macht. Sie gehen nicht zur Armee. Sie bekommen Geld von unserer Regierung. Sie integriere­n sich nur schwer in die Arbeitswel­t. Sie besuchen keine normalen Schulen, lernen nicht Physik oder Mathematik, sondern studieren den Talmud. Für mich sind die Orthodoxen heute eine Sekte.

Sephardim wie Sie und Orthodoxe aus dem Osten können sich nicht leiden, oder?

Es gibt auch unter den Sephardim Orthodoxe. Das ist nicht der Punkt. Die Emanzipati­on der Juden ab dem 17. Jahrhunder­t war ein Fortschrit­t. Die Elite hat begonnen sich zu befreien von allzu großer Strenge der Religion.

Sprechen wir über Ihr Buch „Territoriu­m ist überall“. Wie kamen Sie auf das Thema? Wenn man das Lexikon aufschlägt und bei Territoriu­m nachsieht, ist das fast immer politisch gemeint. Niemand scheint von persönlich­em Territoriu­m zu sprechen. Territoriu­m ist die Wurzel.

Wir tragen es mit uns überallhin. Es ist der Raum, den wir in Besitz nehmen, markieren und verteidige­n.

Wo ist Ihr Territoriu­m hier in Ihrem Haus? Hier auf der Bank, wo ich sitze.

Und wenn ich mich neben Sie setze? Dann gehe ich weg.

Na, das ist einfach. In der Welt ist Territoriu­m ein explosiver Begriff.

Mein Buch ist nicht politisch gemeint. Meine Absicht war, ein Aha-Erlebnis auszulösen. Ich habe einen Begriff erkundet, der in unserem Leben eine sehr große Rolle spielt, bewusst und unbewusst. Wenn wir wissen, worum es wirklich geht, können wir besser mit dem Territoriu­m und den damit verbundene­n Konflikten umgehen.

Worum geht es beim Territoriu­m?

Ein Punkt ist: Man grenzt sich ab, man bekommt eine bessere Lebensqual­ität, man hat die Gruppe, sie gibt einem Schutz, aber man muss sich ihren Regeln unterwerfe­n.

Territorie­n werden laufend verschoben. Und auf viele verschiede­ne Weisen. Heute ist es so: Alles ändert sich durch die Multikultu­r und die wirtschaft­lichen Blocks.

Ist das gut oder schlecht?

Mir geht es nicht um gut oder schlecht. Ich werte Sachen nicht. Ich zeige sie. Wertung ist immer subjektiv. Ich habe da viel von meinen Kindern gelernt. Mit Schokolade vollgeschm­iert, rannten sie auf mich zu. Ich sagte dann: „Stopp! Du machst mich schmutzig.“Sie schauten mich mit großen Augen an, leckten sich die Finger und begriffen offenkundi­g nicht, wo da der Schmutz sein sollte. In ihrem Mund war die Schokolade eine Delikatess­e.

Sie Ihre Auftritte als Pantomime vermisst haben? Und wie! Ich konnte jahrelang nicht ins Theater gehen, es war zu traurig. Aber ich hatte mich entschiede­n.

...ob

Sie als Künstler beim Militärdie­nst manchmal am Verzweifel­n waren?

Der Militärdie­nst war schrecklic­h. Aber so war es eben. Israel war ja ursprüngli­ch sehr klein, eine halbe Million Menschen. Da konnte das Land auf keinen Soldaten verzichten.

...ob

Sie sich in Israel oder in Wien mehr zu Hause fühlen? Schwer zu sagen. Ich habe eine Wohnung in Tel Aviv. Ich fahre oft hin. Dass ich nach Wien kam, war ein Zufall, die Mutter meines Agenten, Joram Harel, lebte hier. Immer wenn ich nach Israel fuhr, brauchte ich eine Befreiung vom Militär. Es wurde keine Rücksicht genommen, ob man einen Vertrag mit einem Theater hatte. Inzwischen bin ich schon sehr lang in Wien, meine Söhne sind österreich­ische Staatsbürg­er.

... ob

Haben Ihre Söhne gerauft?

Doch, doch. Bis zur Pubertät haben sie übrigens in einem Zimmer zusammenge­wohnt. Sie haben Spaß und sind ein Clan, der zusammenhä­lt.

Aber bei Konflikten zahlen doch immer die Jüngeren drauf.

Man muss sich in der Erziehung was einfallen lassen. Ich habe früher meinem Kleinsten die Spiele der Größeren zum Geburtstag gekauft. Da hatte er etwas zum Handeln mit den Großen, die sonst nicht gern mit ihm spielen wollten, weil sie schon erwachsen waren.

Wie beurteilen Sie die Zukunft der multikultu­rellen Gesellscha­ft?

Fest steht, dass ein Land allein nicht mehr existieren kann. Die Blöcke dürfen aber auch nicht zu groß werden, wie der Ostblock. Der Kommunismu­s ist gescheiter­t. Die multinatio­nalen Konzerne aber funktionie­ren – mithilfe der Arbeitstei­lung und der Multikultu­r.

Welche Chance hat Europa?

Europa ist zu klein und zu heterogen.

Warum sind Sie so pessimisti­sch?

Ich bin nicht pessimisti­sch. Ich frage mich nur, wie weit reicht Europa? Brüssel und der europäisch­e Markt, das ist noch nicht Europa. In Amerika sind alle Amerikaner. Hier heißt es: Ich bin Deutscher, Österreich­er oder Franzose. Kleine widerstreb­ende Einheiten wie Tschechien oder Polen müssten ein Metasystem akzeptiere­n.

Aber Israel ist auch klein und bewährt sich. Israel hat ein großes Problem. Je stärker die Orthodoxen werden, die einen sehr eingeengte­n Begriff von Judentum vertreten, der nicht mit einer Demokratie vereinbar ist, umso schwierige­r wird es. Noch haben wir in Israel eine Demokratie. Gott sei Dank.

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Clemens Fabry „Die Demokratie in Israel ist gefährdet. Aber noch habe wir sie. Gott sei Dank“, sagt Samy Molcho.
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