Im »diktatursozialisierten« Osten
In Sachsen-Anhalt kämpft die CDU heute um Platz eins – nicht gegen die Grünen wie im Bund, sondern gegen die AfD. Besuch in einem Wahlkreis, der sich 2016 blau färbte.
Der Himmel weint. Eine Handvoll Menschen hat sich an diesem Regentag auf den Marktplatz von Lützen verirrt. An den Ständen gibt es gegrilltes Hähnchen und Bismarckbrötchen. Gustav II. Adolf, der charismatische Feldherr im Dreißigjährigen Krieg, wacht als Statue über die Szenerie. Der Schwedenkönig fiel hier in der Schlacht bei Lützen. Vor sechs Jahren fiel hier auch die CDU. Also auf Platz zwei. Hinter die AfD. Der Wahlkreis im Süden Sachsen-Anhalts färbte sich blau.
Am Rande des Marktplatzes hat die CDU ein kleines Quartier bezogen: Ein Stehtisch, ein Schirm und drei Luftballons, die im Regen baumeln. Die CDUDirektkandidatin Elke Simon-Kuch (50) soll den Wahlkreis hier zugunsten der CDU drehen. Die Aufgabe sei „schon knackig“, meint die Werbefachfrau. Das ist eher eine Untertreibung.
Letzter Stimmungstest. Am heutigen Sonntag blicken sie im Berliner Regierungsviertel auf Sachsen-Anhalt, genauer auf die Landtagswahl dort. Der Urnengang in dem 2,2-Millionen-Einwohner-Land ist der finale Stimmungstest vor der Bundestagswahl im Herbst. Republikweit kämpfen CDU/CSU und Grüne um das Kanzleramt. Die politische Gefühlslage in Sachsen-Anhalt spiegelt das aber keinesfalls wider. Hier könnten die Grünen zwar laut Umfragen auf acht bis zwölf Prozent zulegen. Aber der ländliche Osten bleibt für sie ein schwieriges Terrain. Hier fordert die AfD die CDU heraus. Vor fünf Jahren sicherten sich die Rechten aus dem Stand 24,3 Prozent der Stimmen – Platz zwei hinter der CDU. Jetzt wollen sie die Christdemokraten überholen.
Einige Umfragen deuten ein Kopfan-Kopf-Rennen an, andere sehen die CDU weiter deutlich vorn und bei 27 bis 30 Prozent. Wenn die Meinungsforscher nicht völlig danebenliegen, dann wird die AfD jedoch wieder jenseits der 20-Prozent-Marke landen. Es wäre ein Achtungserfolg für die zerstrittene und gespaltene Landespartei, die dem völkischen „Flügel“nahesteht und die der Verfassungsschutz für einen rechtsextremen Verdachtsfall hält. Doch viele Wähler schreckt nichts davon ab.
Wie ein Staubsauger saugt die AfD die Unzufriedenheit in den ostdeutschen Regionen auf. Sie ist hier sozusagen beides: rechtsextremer Verdachtsfall – und Volkspartei.
Nur ein paar Meter vom CDUStand entfernt bietet Helena, 24, süßes Gebäck an. Sie gibt einen Tipp, wen sie wählt: „Die Grünen sind’s mal nicht.“Sie stimmt für die AfD. Welche Themen sie überzeugen? Zuerst einmal hält sie Grundsätzliches fest: „Ich hasse Politik.“Dann grübelt sie und nennt den Kampf gegen Gendern und die Coronapolitik. Zu ihren Kunden zählten ja viele Pensionisten, die sie die Pandemie hindurch an ihrem Stand bedient habe. Wenn Corona so gefährlich wäre, meint sie, dann müssten die doch jetzt „alle tot“sein.
2016 war die Flüchtlingspolitik das Leib- und Magenthema der AfD, diesmal scheint ihr der Frust über Coronaund linke Identitätspolitik und auch das Klimathema Wähler in die Arme zu treiben. Dass die CDU auf Bundesebene die Klimaschutzziele drastisch verschärft, das gefällt hier an der Basis der CDU auch nicht allen. Dietmar Goblirsch, Lützener CDU-Ortsbürgermeister, taucht am Wahlkampfstand auf. Neulich sei ja in Berlin für eine autofreie Stadt demonstriert worden. „Wie soll denn eine Bundeshauptstadt ohne Autos funktionieren?“Eine ExSPD-Wählerin beteiligt sich am Gespräch und fragt, ob man künftig nur noch Fahrrad fahren oder vielleicht gleich „mit Pferd oder Esel“reiten soll? Die Fantasten in Berlin, so klingt das, habe der Hausverstand verlassen.
Dass die CDU sich den Grünen annähert, das schade ihr hier im Wahlkampf: So sieht das der Ortsbürgermeister – und auch die Direktkandidatin Simon-Kuch deutete es an. Am Land seien die Menschen auf das Auto angewiesen und auf bezahlbare Energiepreise. Das Szenario einer deutlich ergrünten Republik jage hier „vielen Angst“ein. Zumal die Region ja auch noch an der Braunkohle hängt. Das hat zwar seine Schattenseiten. Der Braunkohle-Tagebau frisst sich durch die Region. Vor einigen Jahren haben sie verhindert, dass Friedrich Nietzsche noch einmal ausgegraben wird. Der Philosoph ruht in seinem Geburtsort Röcken, heute Ortsteil von Lützen. Es gab Überlegungen, das Dorf abzureißen. Trotzdem: Die Kohle gibt Tausenden gut bezahlte Arbeit. Noch. 2038 soll das letzte deutsche Kohlekraftwerk vom Netz gehen. Vielleicht schon früher, falls die Grünen an die Macht kommen und den historischen Kohlekompromiss noch einmal aufschnüren.
Die CDU blinkte zuletzt grün. Den lokalen Wahlkämpfern hier hilft das eher nicht.
„Zwickmühle“. Die CDU steckt in einer strategischen „Zwickmühle“, wie ein Christdemokrat in Sachsen-Anhalt im Hintergrundgespräch mit der „Presse“skizziert. Der liberale Mitte-Kurs der CDU sei in Westdeutschland, in den Großstädten, „womöglich überlebenswichtig“im Kampf gegen die Grünen. Die Menschen in Sachsen-Anhalt hätten jedoch im Schnitt weniger in der
Die Aufgabe ist „schon knackig“: Elke Simon-Kuch soll im Wahlkreis Weißenfels, zu dem auch Lützen zählt, das Direktmandat von der AfD zurückerobern.