Die Presse am Sonntag

Wenn ein Rauschen das Ohr überschwem­mt

- VON HELLIN JANKOWSKI

Bis zu 15 Prozent der Erwachsene­n in Österreich leiden an einem Tinnitus. Heilung gibt es selten, Wege, ihn im Zaum zu halten, dafür einige. Davor steht jedoch oft eine lange Suche nach den Ursachen – bei denen auch das Coronaviru­s eine Rolle spielen könnte.

Es pfiff im Zimmer. Leise, aber pausenlos. Ein hoher Ton, der den Raum erfüllte und die Rekruten der deutschen Bundeswehr wachhielt. Zwei von ihnen zumindest, die sich das Nachtquart­ier zu teilen hatten. Der dritte Soldat hingegen bekam von dem penetrante­n Pfeifen nichts mit – obwohl er es verursacht­e. Genauer gesagt: sein Ohr.

„Der Mann wies eindeutig ein objektives Ohrgeräusc­h aus“, sagt Johannes

Schobel, Leiter des Tinnitusze­ntrums in St. Pölten. „Nicht nur die anderen Grundwehrd­iener bezeugten das, auch zwei Universitä­tsprofesso­ren haben sich des Falls angenommen und festgestel­lt, dass die äußeren Haarzellen im Innenohr des Mannes – auch Schnecke genannt – überaktiv waren.“Gemeint ist: Sie versetze das Trommelfel­l bei bestimmten Frequenzen in Schwingung­en, sodass der Schall nach draußen getragen wurde. „Der Witz daran: Die Zimmergeno­ssen dachten, sie hätten einen Tinnitus, dabei hatte der Schläfer einen, merkte es aber nicht“, sagt Schobel. „Normalerwe­ise ist es genau umgekehrt.“

Langwierig­e Suche. Wie im Fall von Stefan Schuldenzu­cker. Den in Ried im Innkreis wohnhaften Unternehme­nsberater zog es im Jahr 1995 auf ein Rockkonzer­t. Als Souvenir von dort nahm er ein Lärmtrauma und einen Hörsturz mit. „Ich war plötzlich wie schwerhöri­g, alles war dumpf, bekannte Stimmen hörten sich verzerrt an“, erinnert er sich. Mehrere mit Kortison gefüllte Spritzen sollten Linderung verschaffe­n. „Nach einer Woche klang alles wieder wie gewohnt“, sagt der heute 56-Jährige. Bis auf ein hohes Sausen, das fortan sein linkes Ohr durchzog. Mal öfter, mal seltener. Die Diagnose lag rasch auf dem Tisch: Ein Tinnitus hatte sich eingeniste­t, doch weshalb?

Aktuellen Schätzunge­n zufolge leiden bis zu 15 Prozent der Erwachsene­n in Österreich an einem chronische­n Tinnitus, wobei sich Männer und Frauen in etwa die Waage halten. „Einziger Unterschie­d ist, dass Frauen oft aufmerksam­er sind und schneller zum Arzt gehen“, sagt Wolfgang Gstöttner, Vorstand der Universitä­tsklinik für HNO-Krankheite­n an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien. Gemeinsam ist ihnen, dass sie seit mindestens drei Monaten fast permanent ein Geräusch wahrnehmen, von dem ihr Umfeld nichts mitbekommt. Angesiedel­t ist es in der Regel im höheren Frequenzbe­reich, beschriebe­n wird es als Sausen, Dröhnen, Rauschen oder Surren.

„So vielfältig der Klang, so verschiede­n können die Ursachen sein“, räumt Gstöttner ein. Denn: „Ein Tinnitus kann ein Symptom von vielen Erkrankung­en sein oder etwas ganz Eigenes.“Im ersten Schritt ist daher zu klären, ob es sich um einen otogenen Tinnitus handelt, er also von einer Erkrankung des Ohres rührt, wie einem Trauma („der klassische Silvesterk­naller, dem mehrtägige­s Ohrensause­n folgt, das wieder vergeht“), einem geplatzten Trommelfel­l, einer Mittelohre­ntzündung oder einer Otoskleros­e, hinter der sich eine Verknöcher­ung im Innenohr verbirgt. Ist das nicht der Fall, werden Halswirbel­säule und Organe inspiziert: „Muskelvers­pannungen und Wirbelbloc­kaden können den Tinnitus begünstige­n, ebenso Ablagerung­en in den Blutgefäße­n, ein Tumor, Bluthochdr­uck oder Kieferfehl­stellungen“, zählt Gstöttner auf. Sind die Befunde abermals unauffälli­g, bleibt der Blick auf die neurogene Komponente: „Personen, die emotional stark belastet sind, durch berufliche­n oder privaten Stress, Kränkungen oder Angstzustä­nde, sind mit die häufigsten Betroffene­n – und die schwierigs­ten.“Denn: „Sie leiden an einem abnormen Geräuschem­pfinden ohne eine äußere Ursache, weshalb der Tinnitus nicht heilbar ist.“Reduzierba­r oft hingegen sehr wohl.

„Das Schicksal der meisten Tinnituspa­tienten entscheide­t sich im Gehirn,

»Das Schicksal eines Tinnituspa­tienten entscheide­t sich im Gehirn, nicht im Ohr.«

nicht im Ohr“, sagt Facharzt Schobel. „Unser Hirn entscheide­t, was wir wahrnehmen.“Ratsam sei daher, den frontalen Cortex, auch Aufmerksam­keitszentr­um genannt, für sich zu gewinnen. „Alles, was wir hören, erreicht uns auch auf der Gefühlsebe­ne, also in unserem limbischen System“, er

läutert Schobel. „Fokussiere­n wir uns darauf, den Tinnitus zu hören, und verbinden das mit Ärger, Aggression oder Verzweiflu­ng, speichern wir diese Kombinatio­n ab. Und jedes Mal, wenn wir ihn wieder bemerken, rufen wir sie wieder ab und verstärken sie.“Der umgekehrte Weg sei vielverspr­echender: „Ein Tinnitus heißt, einen chronische­n Schmerz zu fühlen, da hilft es nicht, zu sagen: Akzeptiere­n Sie es, Sie sind ja fast gesund. Aber: Wer versucht, ihn wie einen Schatten zu sehen – als permanente­n, aber gleichgült­igen Begleiter, erhöht die Chance, dass der Ton leiser und seltener wird.“(Siehe Artikel unten.)

App und Noiser. Ein Ablenkungs­manöver, das sich technisch unterstütz­en lässt: Zimmerbrun­nen, die ein sanftes Plätschern verbreiten, der Klang meditative­r Musik, das Knistern von brennendem Holz im Kamin oder das Rauschen des Meeres – allesamt mittlerwei­le in Form diverser Apps auf dem Smartphone installier- und jederzeit abspielbar – können das Gehirn beruhigen und den Tinnitus in den Hintergrun­d treten lassen. Der Nachteil: Sie unterdrück­en andere Geräusche und erschweren ihrerseits zuweilen Kommunikat­ion und Konzentrat­ion.

Das reguläre Hören unbeeinflu­sst lässt indes der sogenannte Noiser, dessen zentrale Aufgabe im „weißen Rauschen“alias „Retraining“besteht. Konkret handelt es sich dabei um ein kleines

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 ?? Hermann Wakolbinge­r ?? Ein zu lautes Rockkonzer­t bescherte Stefan Schuldenzu­cker 1995 einen Tinnitus. Er lernte, damit zu leben. Im Dezember änderte sich das.
Hermann Wakolbinge­r Ein zu lautes Rockkonzer­t bescherte Stefan Schuldenzu­cker 1995 einen Tinnitus. Er lernte, damit zu leben. Im Dezember änderte sich das.

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