Die Presse am Sonntag

Auf der Suche nach (ein wenig) Stille

Der Gedanke an Lärm schafft zuweilen Stress, doch auch Ruhe ist trügerisch.

- VON HELLIN JANKOWSKI

Schon im Mutterleib ist der heranwachs­ende Mensch ihnen ausgeliefe­rt: Geräuschen. Zischen, Ploppen, Rauschen umgeben ihn. Nach der Geburt mengen sich weitere hinzu: Stimmen, Klingeln, Summen. Eine Liste, die sich schier endlos erweitern lässt. „Unsere akustische Umwelt wird immer lauter“, sagt der Psychologe Markus Schwabbaur. Und warnt: „Die Digitalisi­erung führt zur Überstrapa­zierung unseres sensiblen Hörsystems. Dadurch entsteht Stress und das wiederum kann zu Tinnitus als einer Reizantwor­t führen.“

Das Perfide daran: „Niemand ist davor gefeit ist, denn der Hauptauslö­ser eines Tinnitus ist Stress“, so der Experte, der soeben das Buch „Die Tinnitus-Lösung“veröffentl­icht hat. Sie lautet: „Die eigene Stille schaffen.“Dahinter steckt ein vierteilig­es Selbsthilf­ekonzept: „Der Tinnitus ist ein Stressprob­lem, ein Problem der Fokussieru­ng,

der Bewertung und der Anspannung“, zählt Schwabbaur auf.

Der Reihe nach: Noch ist die Entstehung eines Tinnitus nicht restlos geklärt, vermutet wird etwa – sofern eine Grunderkra­nkung ausgeschlo­ssen werden kann –, dass geschädigt­e Haarzellen oder fehlerhaft­e Nervenbahn­en falsche Signale weitergebe­n. Tatsache ist: „Stress hält den Körper in Alarmberei­tschaft – er will alles erkennen, was gefährlich sein könnte. Das ist zwar ein Überlebens­vorteil, führt bei Tinnitus aber auch in einen Teufelskre­is“, meint Schwabbaur. Zum Beispiel in eine zu starke Fokussieru­ng: „Je mehr ich auf den Tinnitus achte, umso lauter und intensiver höre ich ihn.“

Damit einher gehen die Krux der Bewertung und Anspannung „Wenn ich fürchte, der Tinnitus schädigt mein Gehör, stört meine Konzentrat­ion, dann wird er das auch tun – und irgendwann hängt dann mein ganzes Wohlergehe­n von ihm ab, da wir uns – mental und muskulär – völlig auf ihn versteifen.“

Um aus der Spirale auszubrech­en, rät der Autor zu Atemübunge­n: „Legen Sie sich vor dem Einschlafe­n hin und hören Sie bewusst hin – ist der Atem lang, fließend, gibt es Pausen? Nach einigen Minuten stellen Sie sich Wellen am Meer vor und versuchen, den Atem ihren Bewegungen anzupassen.“Zudem sei es ratsam, Gedanken aufzuschre­iben: „Dadurch entspannt sich der Geist und auch die Kiefer- und Nackenmusk­ulatur – Bereiche, denen Einfluss auf den Tinnitus zugesproch­en wird“, sagt Schwabbaur. Ein weiterer Tipp: „Maskieren Sie Ihren Tinnitus mit meditative­r Musik, um völlige Stille zu vermeiden, da in dieser das Ohrensause­n stärker wahrgenomm­en wird.“Vielleicht auch ein Grund, weshalb es schon im Mutterleib brodelt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria