»Niemand ist nur gut oder nur böse«
Ihr Heimatland, die Tschechische Republik, litt besonders stark unter der Coronapandemie. Waren Sie auch persönlich betroffen? Alena Mornˇstajnov´a: Ein Onkel von mir ist an Covid-19 gestorben. Vor der Krise habe ich sehr viel Zeit mit Lesungen und Begegnungen mit Lesern verbracht. Das ging nun nicht, dafür hatte ich Zeit zum Lesen und Schreiben. Das war wohl der einzige Vorteil, den wir hatten.
Von einer Seuche berichtet auch Ihr Roman „Hana“. Ein junges Mädchen verliert 1954 bei einer Typhusepidemie in einer tschechischen Kleinstadt Eltern und Geschwister, und es bleibt ihr nur die vom Holocaust schwer gezeichnete Tante.
Es ist eine Geschichte aus meinem Heimatort Valasˇske´ Mezirˇ´ıcˇ´ı (Anm.: heute im Nordosten der Tschechischen Republik). Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht, und ein Teil der Geschichte ist auch meine Familiengeschichte. Aber viele meiner Mitbürger wussten nichts von diesen Ereignissen.
. . . oder wollten nichts wissen?
Die kommunistischen Behörden erlaubten keine Erinnerung daran. Es war wie ein Fleck auf dem kitschigen Bild, das sie von ihrer Herrschaft zu zeichnen versuchten. Genau deshalb wollte ich darüber schreiben und die Toten dem Vergessen entreißen. Es war ein Flug durch das 20. Jahrhundert.
Wie haben die Menschen auf Ihre Recherche und später dann auf Ihr Buch reagiert?
Als ich an dem Buch arbeitete, traf ich mich einmal mit einer Gruppe älterer Bürger in ihrem Seniorenklub, und niemand konnte sich an irgendetwas erinnern. Nach dem Erscheinen hatte ich eine Lesung in demselben Klub, und jeder konnte sich an alles erinnern.
Wenn sich die Menschen schon nicht an die Epidemie von 1954 erinnern konnten oder wollten, wie war es dann erst mit Nazi-Zeit und Judenverfolgung?
Es war sehr schwierig, Menschen zu finden, die Auskunft geben wollten. Stark beeinflusst haben mich die Erinnerungen von Michael Honey. Er wurde 1929 als Mischa Honigwachs in Novy´ Jicˇ´ın (Neutitschein) im Sudetenland geboren, und als sein Heimatdorf nach dem Münchner Abkommen 1938 zum Dritten Reich kam, flüchtete seine Familie nach Valasˇske´ Mezirˇ´ıcˇ´ı, das bei der Tschechoslowakei geblieben war. Doch die Deutschen marschierten im März 1939 ein und zerschlugen, was von unserem Staat noch übrig war. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen kamen ständig Flüchtlinge aus dem Osten durch dieses Gebiet. Flüchtlinge gewährten Flüchtlingen Zuflucht. Der Holocaust hatte begonnen.
Und erreichte bald auch Ihre Heimat.
Das jüdische Leben wurde immer mehr eingeschränkt. Die Juden verloren alle Rechte. Viele hatten die Zeichen zuvor nicht erkannt, und jetzt war es zu spät. Am 15. September 1942 wurde die verbliebene jüdische Bevölkerung von Valasˇske´ Meziˇr´ıcˇ´ı, das waren noch rund 160 Menschen, nach Theresienstadt deportiert. Sie mussten sich mitten in der Nacht auf einem Abstellgleis einfinden. Die Deutschen hatten eine Ausgangssperre verhängt, um Aufsehen zu vermeiden. Jeder durfte nicht mehr als einen Rucksack mitnehmen. Der Transport dauerte für eine Strecke von weniger als 400 Kilometern mehr als 24 Stunden, viele Menschen kamen unterwegs dazu, bei 1963 in der Kleinstadt Valaˇssk´e Meziˇr´ıˇc´ı in Nordmähren geboren.
1984
Geburt der ersten Tochter. Anschließend Englisch- und Tschechisch-Studium an der Universität Ostrava (Ostrau). Arbeit als Lehrerin und Übersetzerin.
2013
Erscheinen des Debütromans „Slep´a mapa“(„Blinde Karte“).
2017
Durchbruch mit dem Roman „Hana“(deutsch erschienen im Wieser-Verlag), der ein Jahr später mit dem Tschechischen Buchpreis 2018 ausgezeichnet wurde. ihrem Eintreffen waren es mehr als tausend.
Theresienstadt war aber nicht das Ende? Theresienstadt war ein Ghetto, das die SS eingerichtet und unter jüdische Verwaltung gestellt hatte. Aber es war auch ein Durchgangslager für Zehntausende, die von hier in die Vernichtungslager deportiert wurden. Mischa erzählt von einer auch mit Wien verwandtschaftlich verbundenen Familie Heller, eines angesehenen Juristen und Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, die schon im Oktober 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Sie hatten zwei Töchter. Mira war sieben und Hana fünfeinhalb Jahre, als sie vergast wurden. An sie wollte ich mit meinem Buch erinnern.
Was haben Sie bei Ihrer Recherche vor Ort herausgefunden?
Nach dem Krieg war die jüdische Gemeinde von Valasˇske´ Mezirˇ´ıcˇ´ı ausgelöscht. Was noch da war, zerstörten die Kommunisten. Die Synagoge wurde abgerissen für eine Feuerwehrstation, die nie gebaut wurde. Der jüdische Friedhof wurde aufgelassen für einen Soldatenfriedhof. Bei den Kämpfen zwischen der Deutschen Wehrmacht und der Roten Armee waren viele Menschen gefallen, die man gleich vor Ort bestattet hatte. So kam es, dass deutsche Soldaten in jüdischen Gräbern zu liegen kamen.
So schrecklich die Geschichte ist, so versuchen Sie doch Ihre Personen fast mit Sympathie zu zeichnen.
Ich versuche, jeden zu verstehen. Niemand ist nur gut oder nur böse. Menschen, die Verbrechen wie jene gegen die Juden begangen haben, mit denen ist etwas grundsätzlich nicht in Ordnung. Das setzt alle Maßstäbe außer Kraft. Alles, was ich in meinem Buch beschreibe, ist geschehen. Das macht es nur umso schrecklicher.
„Hana“ist das meistverkaufte tschechische Buch der Gegenwart, wurde fürs Theater adaptiert und soll verfilmt werden. Das Nachrichtenmagazin „Prospekt“spricht vom „Phänomen Mornˇstajnov´a“. Hat der Erfolg Ihr Leben verändert?
Ich wollte immer schreiben, aber erst 2013 veröffentlichte ich im Alter von 50 Jahren mein erstes Buch. Bis dahin unterrichtete ich Englisch und übersetzte. „Hana“erschien 2017, und der Erfolg erlaubte es mir, mich voll auf das Schreiben zu konzentrieren. Das war immer mein Traum.
Allein in Tschechien wurde das Buch mehr als eine halbe Million Mal verkauft. Zudem wurden schon 13 Lizenzen für Übersetzungen vergeben. Wie erklären Sie sich die starke Resonanz?
Vielleicht liegt es daran, dass ich Bücher schreibe, die ich selbst gern lesen würde. Ich versuche, Hoffnung zu geben. Vielleicht spürt man das.
Kann es auch daran liegen, dass Sie eine ganze Reihe neuralgischer historischer Punkte berühren?
Mein Buch hat das vielleicht ein bisschen lebendig gemacht. In meiner Heimatstadt dauerte es bis 2004, bis eine Gedenkstätte für die Juden errichtet wurde. Ich selbst habe erst durch die Arbeit an meinem Buch diese Geschichte erfahren. Ich dachte, wir wissen längst alles über den Holocaust. Da habe ich mich gewaltig geirrt.
Weiß die junge Generation genug über die Vergangenheit?
Als Lehrerin war ich oft überrascht, was die Schüler alles nicht wissen. Aber das ist gefährlich: Wir müssen unsere Vergangenheit kennen, damit wir sie nicht wiederholen. Ein anderes Beispiel:
Ihr Erfolg für Ihre Familie bedeutet?
Für sie bin ich vor allem Mutter und Ehefrau. Die Familie glaubt, jeder, der ein Buch schreibt, ist sowieso erfolgreich.
...was
lang Sie üblicherweise an einem Buch arbeiten?
Das dauert mindestens zwei Jahre. Ich habe ein fertiges Konzept, wenn ich anfange. Aber dann ändert sich beim Schreiben alles noch einmal.
...wie
Sie „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“von Jaroslav Haˇsek nicht mögen?
Weil ich stolz darauf bin, Tschechin zu sein. Wir machen uns gern selbst herunter und über uns lustig. Aber das ist ein völlig falsches Bild. Wir sind fleißige Menschen mit vielen Talenten und können der Welt viel geben.
...warum
In diesen Tagen erscheint mein neues Buch „November Fall“. Es handelt von den Ereignissen des Herbst 1989 und entwirft die Fiktion, dass die Kommunisten an der Macht blieben. Niemand hat dieses Buch bisher lesen können, dennoch bekomme ich schon jede Menge Briefe, in denen mir vorgeworfen wird, dass ich unrecht habe.
Unrecht in welchem Sinn?
Dass ich den Kommunismus nicht verstehe und falsch darstelle. Viele scheinen die Unterdrückung und die ständigen Versorgungsengpässe vergessen zu haben. Sie erinnern sich nur mehr an eines: Im Sozialismus habe sich der Staat um die Menschen gesorgt, jeder hatte eine Arbeit und jeder hatte eine Wohnung. Aber was sie nicht dazusagen: Das galt nur, wenn man gehorsam war.
Ist diese Nostalgie für den Sozialismus weitverbreitet?
Es betrifft einerseits die ältere Generation. Sie waren jung, gesund und blickten nach vorn. Das prägt ihre Erinnerung. Das kann man verstehen. Was mich aber überrascht: Auch unter jungen Menschen, die erst nach dem Kommunismus geboren wurden, gibt es diese Ansichten. Deshalb dürfen wir nicht aufhören, davon zu reden und klarzumachen, wie falsch dieses System war.
Sie wuchsen im Sozialismus auf, Ihre Töchter aber bereits in der neuen Zeit. Wie groß sind die Unterschiede?
Ich muss gestehen, dass ich jeden beneide, der nicht unter dem Sozialismus aufwuchs. Ich wollte immer frei sein, reisen, die Welt erfahren. Heute, abgesehen von der Corona-Epidemie, ist das möglich. Aber die damaligen Jahre können wir nie mehr zurückholen. Doch heute bin ich zufrieden.