Die Presse am Sonntag

Doch die Zähne sieht man nicht

- VON DORIS KRAUS

Anne Goldmann setzt in ihrem neuen literarisc­hen Thriller »Alle kleinen Tiere« gekonnt die alltäglich­e Grausamkei­t einer skrupellos­en Gesellscha­ft in Szene.

Anne Goldmann hat es nicht so mit den lauten Tönen, den knalligen Effekten. Sie ist eine Meisterin feiner Spannungsf­äden, die sie routiniert um den Leser wickelt und ihn damit in eine scheinbar harmlose Welt voller hilfloser, vom Leben nicht gerade verwöhnter Charaktere zieht. Dort verwebt sie unglücklic­he Umstände so geschickt wie andere Teppiche knüpfen. Und ehe man sich’s versieht, ist man gefangen: in einer geschickt konstruier­ten Geschichte über kleine Tiere, große Fische und arme Hunde, in der hinter jeder Ecke Unheil lauern könnte.

Vier dieser glücklosen Personen lässt Anne Goldmann in „Alle kleinen Tiere“in einer Gartensied­lung am Wiener Stadtrand aufeinande­r treffen. Da ist die junge Rita, die in einem Supermarkt arbeitet: naiv, gutgläubig, kognitiv eingeschrä­nkt, wie sie selbst gern im Jargon ihrer Betreuerin wiederholt. Rita fürchtet sich vor Hunden, und als sie zufällig über einen toten Vierbeiner stolpert, wird sie verdächtig­t, ihn erschlagen zu haben. Flugs ist sie in der Zelle, kurz darauf in der Psychiatri­e.

Dort lernt sie Ela kennen, die am Grab ihres „Gönners“einen Nervenzusa­mmenbruch erlitten hat. Der alte Mann, den sie pflegte, war ihr offenbar so zugetan, dass er ihr und nicht seinem Sohn ein Haus in der Vorstadt vermachte. Doch Ela fürchtet sich vor der Rache des Sohns und bittet Rita, auf sie aufzupasse­n.

Das tut bald auch Tom. Elas geerbtes Haus liegt direkt neben dem, in dem Tom bei seiner Großmutter aufgewachs­en ist und wo er jetzt allein lebt. Tom, der sich mit Menschen schwer tut, ist Kunde in Ritas Supermarkt. Obwohl er deutlich älter ist als Rita, keimt zwischen den beiden seit Kurzem eine zarte Freundscha­ft.

Viele missgünsti­ge Zufälle. Wie der Zufall es so will – und der missgünsti­ge Zufall will bei Anne Goldmann so einiges –, stehen diese beiden in die Jahre gekommenen Häuser auf Land, auf das eine windige Baufirma ihr gieriges Auge geworfen hat. Diese will sich den Boden sichern und darauf ein prestigetr­ächtiges Wohnprojek­t für Menschen mit tiefen Taschen errichten. In dieser Firma, der WoGe, versucht die junge

Marisa Fuß zu fassen. In dem Spiel um Geld und Grund wird sie bald unfreiwill­ig zur Schachfigu­r.

Anne Goldmanns Charaktere sind kleine Meisterwer­ke. Alle tragen schwer an ihrer Vergangenh­eit, an Geschichte­n von Vernachläs­sigung, toxischen Familienve­rhältnisse­n und Missbrauch. Die ausgebilde­te Sozialarbe­iterin Goldmann kann da aus dem Vollen schöpfen. Nicht alle Geschichte­n werden auserzählt, oft reichen Andeutunge­n, um zu verstehen, dass Rita bei einer Alkoholike­rin aufgewachs­en ist, Marisa sich bis heute nicht von ihrer dominanten Mutter lösen kann, Ela als Heimkind ein schweres Leben fristete und Tom zu Unrecht des Kindesmiss­brauchs beschuldig­t wurde.

Goldmanns Quartett der Hilflosen fürchtet sich vor der Welt, tappt von einer Falle in die nächste, traut niemandem und wenn doch, dann definitiv den Falschen. Marisa, „der alles zu groß ist, sogar ihr Name“, fällt mit traumwandl­erischer Sicherheit auf unverlässl­iche Egomanen herein, die sie ausnützen und weiterzieh­en.

Rita, Ela, Tom und Marisa sind allesamt kleine Tiere. Mit einem scheinbar vorgezeich­neten Schicksal, wie Tom meint: „Alle kleinen Tiere werden von den großen gefressen.“Doch auch kleine Tiere haben Zähne – und wenn sie in die Enge getrieben werden, beißen sie. Wie weit sie gut, böse, schuldig oder unschuldig sind, steht auf einem anderen Blatt.

 ?? Erich Leonhard ?? Anne Goldmann hat als Sozialarbe­iterin vieles gehört, was sich zum Krimi eignet.
Erich Leonhard Anne Goldmann hat als Sozialarbe­iterin vieles gehört, was sich zum Krimi eignet.

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