Doch die Zähne sieht man nicht
Anne Goldmann setzt in ihrem neuen literarischen Thriller »Alle kleinen Tiere« gekonnt die alltägliche Grausamkeit einer skrupellosen Gesellschaft in Szene.
Anne Goldmann hat es nicht so mit den lauten Tönen, den knalligen Effekten. Sie ist eine Meisterin feiner Spannungsfäden, die sie routiniert um den Leser wickelt und ihn damit in eine scheinbar harmlose Welt voller hilfloser, vom Leben nicht gerade verwöhnter Charaktere zieht. Dort verwebt sie unglückliche Umstände so geschickt wie andere Teppiche knüpfen. Und ehe man sich’s versieht, ist man gefangen: in einer geschickt konstruierten Geschichte über kleine Tiere, große Fische und arme Hunde, in der hinter jeder Ecke Unheil lauern könnte.
Vier dieser glücklosen Personen lässt Anne Goldmann in „Alle kleinen Tiere“in einer Gartensiedlung am Wiener Stadtrand aufeinander treffen. Da ist die junge Rita, die in einem Supermarkt arbeitet: naiv, gutgläubig, kognitiv eingeschränkt, wie sie selbst gern im Jargon ihrer Betreuerin wiederholt. Rita fürchtet sich vor Hunden, und als sie zufällig über einen toten Vierbeiner stolpert, wird sie verdächtigt, ihn erschlagen zu haben. Flugs ist sie in der Zelle, kurz darauf in der Psychiatrie.
Dort lernt sie Ela kennen, die am Grab ihres „Gönners“einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Der alte Mann, den sie pflegte, war ihr offenbar so zugetan, dass er ihr und nicht seinem Sohn ein Haus in der Vorstadt vermachte. Doch Ela fürchtet sich vor der Rache des Sohns und bittet Rita, auf sie aufzupassen.
Das tut bald auch Tom. Elas geerbtes Haus liegt direkt neben dem, in dem Tom bei seiner Großmutter aufgewachsen ist und wo er jetzt allein lebt. Tom, der sich mit Menschen schwer tut, ist Kunde in Ritas Supermarkt. Obwohl er deutlich älter ist als Rita, keimt zwischen den beiden seit Kurzem eine zarte Freundschaft.
Viele missgünstige Zufälle. Wie der Zufall es so will – und der missgünstige Zufall will bei Anne Goldmann so einiges –, stehen diese beiden in die Jahre gekommenen Häuser auf Land, auf das eine windige Baufirma ihr gieriges Auge geworfen hat. Diese will sich den Boden sichern und darauf ein prestigeträchtiges Wohnprojekt für Menschen mit tiefen Taschen errichten. In dieser Firma, der WoGe, versucht die junge
Marisa Fuß zu fassen. In dem Spiel um Geld und Grund wird sie bald unfreiwillig zur Schachfigur.
Anne Goldmanns Charaktere sind kleine Meisterwerke. Alle tragen schwer an ihrer Vergangenheit, an Geschichten von Vernachlässigung, toxischen Familienverhältnissen und Missbrauch. Die ausgebildete Sozialarbeiterin Goldmann kann da aus dem Vollen schöpfen. Nicht alle Geschichten werden auserzählt, oft reichen Andeutungen, um zu verstehen, dass Rita bei einer Alkoholikerin aufgewachsen ist, Marisa sich bis heute nicht von ihrer dominanten Mutter lösen kann, Ela als Heimkind ein schweres Leben fristete und Tom zu Unrecht des Kindesmissbrauchs beschuldigt wurde.
Goldmanns Quartett der Hilflosen fürchtet sich vor der Welt, tappt von einer Falle in die nächste, traut niemandem und wenn doch, dann definitiv den Falschen. Marisa, „der alles zu groß ist, sogar ihr Name“, fällt mit traumwandlerischer Sicherheit auf unverlässliche Egomanen herein, die sie ausnützen und weiterziehen.
Rita, Ela, Tom und Marisa sind allesamt kleine Tiere. Mit einem scheinbar vorgezeichneten Schicksal, wie Tom meint: „Alle kleinen Tiere werden von den großen gefressen.“Doch auch kleine Tiere haben Zähne – und wenn sie in die Enge getrieben werden, beißen sie. Wie weit sie gut, böse, schuldig oder unschuldig sind, steht auf einem anderen Blatt.