Frankreichs blaue Sehnsuchtsküste
Es gibt nicht viele Strände, die sich mit der Cˆote d’Azur vergleichen lassen. Sie erzählt eine Geschichte von Luxus und mondäner Eleganz, Millionären und armen Künstlern, Modernität und morbidem Verfall. Jeder kennt sie, auch wenn er gar nicht dort war.
Amerikaner, Engländer, Franzosen, Deutsche, Schweden, Italiener. Liebeleien, Enttäuschungen, Streit, Versöhnung, Mord. Die Coˆte d’Azur erregte ihn, wie ihn kein anderer Ort der Welt, den er kennengelernt hatte, erregen konnte.“Der, der sich da so enthusiastisch zeigte, ist in der ganzen Welt als der „talentierte Mr. Ripley“bekannt, ein von Patricia Highsmith erfundener Gauner und Gelegenheitsverbrecher, der hier an der französischen Riviera das ganz große Mord-Ding dreht. Die Besetzung des Films mit dem wunderschönen, am Beginn seiner Karriere stehenden Alain Delon, die genüssliche Zurschaustellung nasser, gebräunter Haut und das flirrende Licht der sommerlichen Coˆte d’Azur sorgten für den Erfolg des Films.
Apropos schöner Mann: Auch Cary Grant schwamm für Regisseur Alfred Hitchcock vom Meer an den Strand, wo Grace Kelly lag und ein Auge auf ihn warf. Überall gab und gibt es an diesem Strand Menschen, die gesehen werden und gesehen werden wollen, daran hat sich nichts verändert, abgesehen davon, dass nicht alle so gut aussehen wie Grace Kelly und Cary Grant.
„Azur“. Was wir damit sagen wollen: Auch der, der noch nie dort war, kennt als Medienkonsument Frankreichs blaue Sehnsuchtsküste, in der Luxus und mondäne Welt, Schönheit und Eleganz einander treffen und das Meer seine Gala-Vorstellung dazu gibt. Auch er erliegt dem Charme des sinnlichverführerischen Worts „azur“mit seinem zärtlichen, wie ein weiches s klingenden z und dem nicht enden wollenden, traumverlorenen ü. Das geht seit 150 Jahren so, begann mit englischen Aristokraten (sie sprachen von der „French Riviera“) und endete bei Jetsetund Pauschaltouristen, Jachtbesitzern und Campingurlaubern.
Es gibt nicht viele Strände, die sich mit „La grande bleue“vergleichen lassen. Literatur, bildende Kunst, Film und unzählige Fotografien haben dazu beigetragen, dass das Fehlen eigener unmittelbarer Eindrücke überlagert und durchdrungen wird und eine eigene fiktionalisierte Wirklichkeit entsteht. Eigentlich war schon jeder dort.
Lutz Hachmeister „Hˆotel Proven¸cal. Eine Geschichte der Cˆote d’Azur“
Bertelsmann, 237 Seiten, 22,70 €.
Einer, der sich hier aber wirklich auskennt, ist der Publizist und Filmemacher Lutz Hachmeister. Er hat sich die Küste Schritt für Schritt erobert, beginnend mit der französisch-italienischen Grenzstadt Menton mit den gigantischen Hotelpalästen der Belle E´poque, dann weiter nach Villefranche-sur-Mer, wo Jean Cocteau seinem Opiumkonsum frönte, nach Monaco, dessen „Hochhausbatterien“ihm eher uninteressant erschienen, dann Nizza und Antibes natürlich.
Juan-les-Pins, der Ort mit den Pinien und dem makellosen Sandstrand, wurde entdeckt.
„Seinen“Ort fand Hachmeister in Juan-les-Pins, 1989 kam er das erste Mal hierher. Ein Gebäude faszinierte ihn: Ein weißer Koloss in einem undefinierbaren Melange-Architekturstil schien traditionsreich, doch unbewohnt, sah aus „wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer“. Nur „Lost places“-Explorer verirrten sich hierher. Es handelte sich um das 1927 eröffnete Luxushotel La Provenc¸al, das seit 1977 leer stand, aber einst als aufregendste und modernste Herberge der Coˆte d’Azur galt. Hachmeister hat über die Geschichte des Gebäudes einen Dokumentarfilm gedreht und liefert uns jetzt das Buch dazu: „Hoˆtel Provenc¸al. Eine Geschichte der Coˆ te d’Azur“.
Juan-les-Pins, der Ort mit den namengebenden Pinien und dem makellosen Sandstrand, erlebte als Vergnügungszentrum im 20. Jahrhundert seinen Aufschwung lang vor Saint-Tropez. Während der Belle E´poque verhalfen die Pariser dem Ort zum Mythos urbaner Modernität. Claude Monet malte hier, lang bevor er zum Mekka der fashionable people wurde, sein staunenswertes Gemälde „La plage de Juan-les-Pins“. Die Reise des Malers stehe, so Hachmeister, für eine epochale Veränderung in der französischen Malerei, „die künstlerische Drift von der Normandie in die wärmeren Gefilde der Coˆte d’Azur.“Der Dichter Guy de Maupassant schrieb, dass Juan-lesPins „vielleicht später der hübscheste Badeort der ganzen Küste sein wird“.
Europäische Hochadelige und Großbürger verbrachten an der klassischen Riviera, die es kulturhistorisch seit dem 18. Jahrhundert gibt, die Wintermonate. Von Wien und St. Petersburg reiste man mit dem Zug nach Nizza. 1887 tauchte der Begriff Coˆ te dAzur auf, in einem blumigen Werk von 630 Seiten. Der Autor und Erfinder einer landschaftlichen Trademark ist heute vergessen, es war ein Regionalpoli
oise Gilot in Juan-les-Pins (1946). tiker namens Ste´phen Lie´geard. Nizza war überhaupt erst seit 1860 französisch, es war zuvor Teil des Königreichs von Savoyen und Sardinien.
Doch das war immer noch ein Winterschlaf im Vergleich zu dem, was die Amerikaner ab 1921 in Juan-lesPins auslösten. Cole Porter hielt samt Rolls-Royce mit Chauffeur und Gattin Linda, die ihn finanzierte, stilvoll Hof. Die Einheimischen dachten, er sei verrückt. Sie wussten nicht, was noch kommen würde und dass sie bald in den eigenen Städten nur mehr Dienstpersonal und Kellner sein würden.
Die Nächsten, die kamen, waren die wohlhabenden Amerikaner Gerald und Sarah Murphy, die sich leidenschaftlich für Kunst und Literatur interessierten und in ihrem Zuhause in Antibes Künstler wie F. Scott Fitzgerald, John Dos Passos, Pablo Picasso und Igor Strawinsky empfingen. In Nizza erlitt 1927 die verarmte Tänzerin Isadora Duncan ihren spektakulären Tod, als sie in den Amilcar (nicht Bugatti, wie man früher annahm) des Rennfahrers Benoˆıt Falchetto stieg, sich ihr langer chinesischer Seidenschal in der Hinterachse verfing und ihr Genick brach.
Doch noch deutete nichts auf die katapultartige Entwicklung für Juanles-Pins hin. Sie ging zurück auf Frank J. Gould (1877–1956), einen US-Multimillionär und Sohn des berüchtigten, ultravermögenden Wall-Street-„Raubritters“Jason „Jay“Gould, der wegen seiner Finanzmachinationen zu den meistgehassten Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte gehört. Sein Sohn entdeckte die Gegend auf seiner Hochzeitsreise und baute das bis 1918 vor sich hin dämmernde Juanles-Pins mit anderen Investoren zum Hotspot mit Spielcasino, Nobelrestraurants, Tennisplätzen und eben dem zentralen Hotel aus.
Durch diesen Amerikanisierungsschub in den 1920er-Jahren wurde der Ort ein Gegenmodell zu den Adelsrefugien wie Nizza oder Cannes. Hier war alles aufregend und neu. Es war der „Ort für den schnellen Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blässe und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Bräune, zur Bikinischau, zur Körperexzentrik“(Hachmeister).
Juan-les-Pins stand für die kulturelle, künstlerische und architektonische Modernität an der Coˆ te. Bald wohnten in den 290 Zimmern des Luxushotels Provenc¸al Prominente wie Winston Churchill, Ernest Hemingway, Lilian Harvey, Willy Fritsch, Coco Chanel, Ella Fitzgerald oder Charlie Chaplin. Der Ort erlangte ein Gegenimage zu den bekannten Provence-Klischees mit Lavendelfeldern und Töpfereien. Hier mischte sich auch das Halbkriminelle, Demi-Mondäne, Ostentativ-seinen-Luxus-zur-Schau-Stellende hinein. Die alteingesessenen Franzosen zeigten sich bald entsetzt über die Entwicklung der „ville atroce“(Jean Cocteau).
Ganz nebenbei erfand 1925 (oder war es doch 1931?) ein gewisser Le´o Roman bei Juan-les-Pins einen vom Geschwindigkeitsrausch stimulierten Zeitvertreib, das Wasserskifahren. Das gekonnte Gleiten auf der Wasseroberfläche mittels zweier Bretter machte freilich erst nach dem Zweiten Weltkrieg Furore. 1931 erschien ein Reiseführer der ganz anderen Art: Die Thomas-Mann-Sprösslinge Erika und Klaus schrieben mit ihrem „Buch von der Riviera“eine vergnügt-legere Liebeserklärung. Das Ziel der beiden: mit möglichst wenig Geld möglichst aufwendig zu leben, ein Vorhaben, das im Frankreich des Jahres 1931 scheinbar mühelos umsetzbar war.
Anrüchig. Der Bestsellerautor Graham Greene schrieb in einem Pamphlet 1982: „Vermeiden Sie die Gegend um Nizza – sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Süden Frankreichs“. Das nahm man ihm hier sehr übel.
Auch Hachmeister vergisst nicht zu erwähnen, dass die Französische Riviera ein Tummelplatz für Diktatoren und Autokraten aller Couleur war und wie sich hier ein Netz von lokalen Potentaten, Mafia-Organisationen, Spekulanten und gewöhnlichen Schwerkriminellen entspann, auch dass die Region seit Jahrzehnten politisch sehr weit rechts steht. Marine Le Pen hat gute Chancen, hier bei den nächsten Präsidentschaftswahlen am ersten Platz zu landen.
Europäische Hochadelige und Großbürger verbrachten an der Riviera die Wintermonate.
Doch auch wenn ab und zu der eine oder andere Mafioso oder russische Oligarch vorbeischaut, zehn Monate im Jahr ist es inzwischen „ruhig und angenehm“hier geworden, schreibt Lutz Hachmeister, dem es ganz gut gefällt, dass Juan-les-Pins auch den leicht morbiden Charakter einer „Stadt der toten Hotels“bekommen hat. Er hat diesem „rätselhaften Nebeneinander von architektonischem Verfall und Superluxus“an der Coˆte d’Azur ein anregendes und unterhaltsames Buch gewidmet.