Ein Herr, der mit den Weinstöcken redet
Josef Jamek – dieser Name steht wie kein anderer für die Renaissance österreichischer Weinkultur. Der Pionier der Wachauer Winzer keltert als erster leichtere, naturbelassene Weine. In einer Zeit, in der man bevorzugt „bukettreiche“Weine trinkt.
Mit vollmundigem Dürnsteiner Katzensprung besiegelt man 1955 beim Staatsvertragsbankett die Freiheit Österreichs. Nach langen Jahren der Entbehrung will man wieder leben. Reichlich essen und trinken. Es ist die Zeit der fetten Gansln. Als noch die meisten Winzer zwischen Grinzing und Gumpoldskirchen – um bukettreiche Weine zu erzielen – Säcke voll Zucker in ihre Fässer schütten, revolutioniert ein innovativer Herr den Weinbau.
Als auch in der Wachau für viele andere Winzer nur die Menge des in Doppler abgefüllten Weines und dessen hoher Alkoholgehalt entscheidend sind, beginnt Josef Jamek, der Pionier der Wachauer Winzer, leichte, naturbelassene Weine mit feiner Säurestruktur zu keltern. Weine, die Körper und Kraft nur aus der Reife der Trauben beziehen. „Den Wein in Ruhe reifen lassen, Bekömmlichkeit und Harmonie als oberstes Gebot beachten“, sind die Bedingungen für Josef Jamek – der, wie der Journalist Peter Breitschopf zu wissen glaubt, „mit den Weinstöcken redet“.
Michael Horowitz
Die Jamek-Weine, deren ausgewogenes Zusammenspiel von Restzucker und Säure, deren niedrige Schwefelwerte sollen Genuss ohne Kopfschmerzen und Sodbrennen garantieren.
Eva ist eine der vier Töchter des legendären Wachauer Winzers. Eine feingliedrige Person, deren Augen im Gespräch zwischen Plafond und Fußboden pendeln; eine schöne, schüchterne Frau. Ihre Bewegungen, ihre Körpersprache, das tiefe Luftholen vor jedem Satz erinnern an den Vater. Schon im Alter von 12 Jahren beginnt Eva im Service und in der Küche mitzuhelfen. Jeden Samstag wird sie pünktlich um 11.30 Uhr von der Schule abgeholt. Bis der Vater eines Tages zum Direktor zitiert wird. Ob er wohl wisse, dass seine Tochter regelmäßig von einem reiferen Herrn im Auto abgeholt würde. „Von mir selbst, sie muss beim Mittagsgeschäft im Betrieb mithelfen“, antwortete Josef Jamek knapp.
JJJ – drei ineinander verschlungene Js für Josef Jamek Joching – findet man auch heute noch auf den Etiketten seiner Weinflaschen. Klassisch-konservativ gestaltet. Schon während jener Zeit, als viele Winzer glauben, man müsse seine Flaschen von einem akademischen Maler oder zumindest dem Zeichenlehrer des Ortes entwerfen lassen.
Der knorrige Josef Jamek ist zumeist von zurückhaltender Herzlichkeit. Wenn er auf der Brücke seines Restaurants, zwischen Eingang und Schank, im Reservierungsbuch wild herumstreichend, Gäste begrüßend, dem Personal knappe Anweisungen gebend, alles überblickend steht, erinnert er an den französischen Komiker Jacques Tati. Oder an Karl Valentin.
Josef Jamek ist ein hagerer, aristokratisch wirkender Herr aus einer anderen Zeit. Mit granitgrauem Bürstenschnitt und wachen, stets suchenden Augen. Der strenge Winzer kann aber auch sehr gesellig sein. Wenn er etwa mit Freunden bei einer Flasche Weißburgunder Auslese im Gästebuch blättert. Und sich mit leiser Wehmut an die Eintragungen der Prominenz erinnert.
Legendäre Politiker der Nachkriegszeit wie Leopold Figl, Felix Hurdes und Reinhard Kamitz, Publikumslieblinge
wie Annie Rosar („Jo, Jo, Jo, es war sehr schön“), Heinz Conrads und Helmut Qualtinger waren da. Bruno Kreisky und Billy Wilder, Helmut Kohl und Franz Vranitzky haben sich an Veltliner und Riesling, an Edeltraut Jameks Klassikern Hechtnockerln, gebratener Blutwurst, Kalbsbeuschel und Topfenhaluschka erfreut. Beim Blättern im Gästebuch erzählt der Doyen des Wachauer Qualitätsweins von der versiegelten Gärglocke des Notars Melzer, der bis Ende der 1960er-Jahre von der Lese bis zur Abfüllung immer anwesend war – als Garant für kompromisslose Reinheit der Weine.
1983 verhindert Jamek das Kraftwerk zwischen Weißenkirchen und Dürnstein.
Und Josef Jamek erinnert sich an den „Arbeitskreis zum Schutz der Wachau“, als er mit seinem Mitstreiter Franz Hirtzberger 1983 das Kraftwerk im Flussknie zwischen Weißenkirchen und Dürnstein verhindert.
Der resolute Winzer ist ein bescheidener Mensch. Als ihn ORF-Landesintendant Rudolf Bayr, treuer Stammgast des Hauses, als Ehrengast zu einem Philosophen-Symposium nach Salzburg einlädt, lehnt er sofort ab: „Fünf
or einem Jahr und einem Tag wurde Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek das letzte Mal gesehen. Nur kurz zuvor hatte der Zahlungsdienstleister aus Aschheim bei München verkündet, in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro nicht mehr wiederfinden zu können. Und während Marsalek in einer Cessna Citation Mustang mit freundlicher Unterstützung einiger BVT-Beamten von Bad Vöslau gen Osten floh, flog der Skandal auf und der Laden den zurückgebliebenen Führungskräften um die Ohren.
Wirecards Vorstände: Marsalek ist auf der Flucht, Braun im Gefängnis.
Ex-Vorstandschef Markus Braun, wie Marsalek ein Österreicher, sitzt nach wie vor in U-Haft. Sie wurde gerade verlängert. Kronzeuge Oliver B., Statthalter von Wirecard im Mittleren Osten, ebenfalls. Die Staatsanwaltschaft München arbeitet hinter den Kulissen an deren Anklage. Insgesamt gibt es mehr als 20 Beschuldigte. Die Vorwürfe in Deutschland und Österreich reichen von Untreue und Bilanzfälschung über Bandenbetrug bis zum Verdacht der Spionage für fremde Mächte.
Von Aufstieg und Untergang. Der Untergang von Wirecard dauerte von der Verkündung der fehlenden Milliarden bis zur angemeldeten Insolvenz am 25. Juni 2020 sieben Tage und sieben Nächte. Es war das erste DAX-Unternehmen, dem das je widerfuhr. Wirecard musste zugeben, keinen Abschluss für 2019 vorlegen zu können. Die Prüfer hatten ihre Unterschrift verweigert. Und mit einem Schlag verloren Aktionäre rund 20 Milliarden Euro. Aber wie kam es so weit?
Es kam nicht aus dem Nichts. Jahrelang hatte es immer wieder Gerüchte gegeben, dass bei dem Zahlungsdienstleister nicht alles mit rechten Dingen zuginge. Kenner waren skeptisch: Das Unternehmen wuchs nicht gesund. Der Aufstieg war zu rasant. Schließlich drängte Wirecard sogar die Commerzbank aus dem DAX und war zum Schluss mehr wert als die Deutsche Bank.
Wirecard verdiente sein erstes großes Geld mit der Zahlungsabwicklung von legalem und illegalem OnlineGlücksspiel und -Pornoseiten. In den Nullerjahren gründete das Unternehmen dann erste Niederlassungen in Asien – und verkündete öffentlichkeitswirksam, dass man von dort aus auch
China und Japan erobern werde. Das passierte so zwar nie, aber der Mythos des international erfolgreichen Konzerns war in die Welt gesetzt.
Zuckerbrot und Peitsche. Wirecard strickte über die Jahre mit Auslandstöchtern und Drittpartnern ein kompliziertes Firmennetzwerk, in dem Geld verschoben und erfunden wurde. Der Zahlungsdienstleister erschloss auch weitere Geschäftsfelder wie Versicherungen, Kreditvergabe und Datenauswertung.
Das brachte dem Konzern (wenn auch falsche) fulminante Geschäftszahlen, die den Gang an die Börse ermöglichten. Markus Braun trat als Visionär auf, begeisterte und beschwichtigte Anleger, Analysten und Prüfer offenbar über viele Jahre.
Sein Partner Jan Marsalek kümmerte sich um die schmutzige Seite des polierten Wirecard-Images. Er ging mit unlauteren Mitteln und vi el Geld gegen all jene vor, die es wagten, öffentlich an Wirecard zu zweifeln. Er engagierte etwa eine Wiener Detektei, die „Financial Times“-Journalisten bespitzelte, Kritiker observierte und bedrohte. Marsalek bezahlte dafür, dass im Internet mit Fake-Profilen Stimmung gemacht wurde.
Im Wirecard-Skandal geht es aber um viel mehr als eine Gangsterbande, die ihr Unwesen trieb und alle täuschte. Das konnte nur funktionieren,
weil es genug gesetzliche Schlupflöcher gab. Weil die Kontrollbehörden schwach aufgestellt sind. Und weil Deutschland Geldwäsche seit Jahren viel zu zaghaft bekämpft. Die Justiz war behäbig und verschlief es, Hinweisen nachzugehen. Zum Schluss konnte Marsalek sogar unbehelligt fliehen, weil der Haftbefehl nicht fertig war.
Dazu kommt, dass Wirecard ein gut funktionierendes politisches Netzwerk in Deutschland und Österreich hatte, das dem Unternehmen den Rücken stärkte. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst machte sich im Ausland für die Münchner Firma stark. Braun war als Berater von Kanzler Sebastian Kurz in dessen Thinktank „Think Austria“engagiert. Zudem spendete er für die Neos – und Marsalek pflegte gute Kontakte zur FPÖ.
Imageschaden. Der deutsche U-Ausschuss zeigte die vergangenen Monate ein peinliches Multiorganversagen auf, das stark am Image der unbesiegbaren Wirtschaftsmacht Deutschland kratzt. „Wirecards Absturz legt Pars pro Toto die Abgründe unseres Wirtschaftssystems offen, rüttelt an den Grundfesten des Finanzkapitalismus und entlarvt vermeintliche deutsche Gewissheiten als Selbstbetrug. Der Fall ist damit nicht weniger als ein Lehrstück über Technologiegläubigkeit, Investorengier und Korruption, ein Sittengemälde über die Abgründe der Hochfinanz – und ein Weckruf für den Zustand unseres politischen Systems“, fasste der „Handelsblatt“Journalist Felix Holtermann das in seinem Buch „Geniale Betrüger“zusammen.
Die Leidtragenden sind die Hunderttausenden Anleger, manche haben ihr ganzes Vermögen verloren. Auch in Österreich haben Geschädigte Klagen auf Schadenersatz in Tirol eingebracht, weil der ehemalige Wirecard-Chef Braun eine Villa in Kitzbühel besitzt. Das Landesgericht in Wien bekam zuletzt den Fall zugewiesen.
Auch wenn die Insolvenzverwalter sehr bemüht sind, alles zu Geld zu machen, was noch verwertbar ist: Vom großen Kuchen sind nur noch Krümel übrig.
Spionage. Der Wirecard-Skandal hat viele kriminelle Nebenschauplätze aufgetan: In Österreich wird gegen BVT-Beamte ermittelt. Der ehemalige Abteilungsleiter Martin W. dürfte Marsalek schon lang und gut kennen. Er hatte sogar sein Büro in dessen Münchner Luxusvilla, gehörte zu den engsten Vertrauten. Der „Presse“liegen etliche Fotos von illustren Abenden mit schönen Frauen und Personen aus der Welt der Geheimdienste vor.
Gemeinsam mit ehemaligen BVT-Beamten organisierte W. schließlich auch Marsaleks Flucht. Er wurde verhaftet und gab bei seiner Vernehmung an, für Marsalek gegen Geld sensible Daten aus Polizeicomputern organisiert und auch nach dessen Flucht Kontakt zu ihm gehalten zu haben.
Bei einem beschuldigten ITTechniker, ebenfalls einst BVT-Beamter, wurden ausgelesene Handydaten hochrangiger Innenministeriumsmitarbeiter gefunden. Ob und an wen er sie weitergegeben hat? Marsalek? Arbeitet der für russische Geheimdienste? Die österreichischen Beamten etwa auch? Könnten Informationen aus dem Herzen des Staates in falsche Hände gekommen sein? Die Strafverfolgungsbehörden arbeiten auf Hochtouren an der Beantwortung dieser Fragen, die nicht nur Geheimdienste hierzulande hochnervös machen. Der Bundesdeutsche Nachrichtendienst (BND) sucht intensiv nach dem flüchtigen Marsalek und vermutet ihn derzeit in Moskau.
Der Wirecard-Skandal zeigt die Schwächen Deutschlands.
Nicht zuletzt deswegen will das FBI nach „Presse“-Informationen ein Spiegelverfahren in den USA einleiten, um zu prüfen, ob amerikanische Interessen verletzt worden sein könnten. Neben dem Verdacht der Spionage für Russland sind Geldwäsche und geschädigte Anleger weitere Themen.
Ruhe vor dem Sturm. Mittlerweile ist es um Wirecard etwas ruhiger geworden: Der deutsche U-Ausschuss ist vorbei, der Sommer steht an – und Wahlen in Deutschland im Herbst. Der Regierung wäre es wohl recht, Gras über die Sache wachsen zu lassen, in der Hoffnung, dass der Imageschaden etwas abheilt. Die Justiz hat sich hinter den Vorhang zurückgezogen, um in Ruhe zu arbeiten. Die vollständige Aufarbeitung des Falls wird die Behörden in Deutschland und Österreich aber wohl noch viele Jahre begleiten.