Die Last des Halses
Was die Giraffen so in die Höhe getrieben hat, ist umstritten. Klar sind aber die Probleme für die Physiologie, vor allem die der Blutgefäße.
Wenn Giraffenbullen miteinander kämpfen, dann machen sie einer der möglichen Wurzeln des Namens ihrer Art – xirafah gleich „die Liebliche“– keine Ehre, im Gegenteil: Sie stehen einander gegenüber, und der eine biegt den Hals zur Seite, so weit er kann. Dann lässt er ihn zurückschnellen und seinen Schädel mit voller Wucht auf den des anderen prallen. Dann holt der andere aus, und so geht es hin und her, bis einer das Feld räumt oder zusammenbricht.
Bilder des Gemetzels, das bis zum Tod gehen kann, sind schwer zu ertragen, aber für nüchterne Biologenaugen bietet diese Kampfweise eine Erklärung für die ellenlangen Hälse der Giraffen: Sie sind in intrasexueller Selektion entstanden, als Waffen, mit denen Männchen um ihren Vorrang kämpfen. So sah es Lue Scheepers (American Naturalist 148, S. 771), überzeugend ist es nicht: Zwar sind Männchen mit ihren sechs Metern noch höher als Weibchen, aber die bringen es schon auch auf fünf, und bevor der Hals zur Waffe werden hätte können, hätte er sich aus anderen Gründen strecken müssen.
Tat er das etwa, um Wärme abstrahlen zu können? Darauf setzte A. Brownlee (Nature 200, S. 1022), aber wenn man das Volumen des ganzen Körpers, der Wärme loswerden muss, in Relation zur Oberfläche setzt, die Wärme abstrahlt, dann liegt das Verhältnis bei Giraffen mit 11:1 viel ungünstiger als bei Gazellen (und, ähnlich, bei uns) mit 4,7.
Liegt also nicht viel näher, was jeder Laie sieht und was Lamarck 1809 zu Papier brachte: dass es um das Erschließen von Nahrung ging, die andere nicht erreichen konnten? Demnach streckten die Ahnen der Giraffen dafür ihre Hälse in die Baumkronen und gaben diese erworbene Eigenschaft weiter. Darwin nahm das auf, er sah darin – anders als spätere dogmatische Darwinisten – keinen Widerspruch zur eigenen Evolutionstheorie: „Die längsten Individuen hätten überlebt, und das, kombiniert mit den ererbten Folgen des erhöhten
Gebrauchs von Körperteilen, macht mich sicher, dass ein ganz normales Huftier in eine Giraffe verwandelt wurde“, steht in „Origin of Species“.
Aber auch das stieß auf Widerspruch, grundsätzlichen: „Ich frage mich manchmal, warum niemand bemerkt hat, dass der Hals der Giraffe in Wahrheit eher kurz ist.“Mit dieser Überraschung wies Craig Holdrege (The Nature Institute) in „The Giraffe’s Short Neck“darauf hin, dass das eigentlich Erstaunlich und Erklärungsbedürftige die Beine sind, vor allem die vorderen, die so lang sind, dass Giraffen den Kopf kaum zum Boden bringen, zum Trinken müssen sie die Beine spreizen. Das war ein Echo auf noch eine Hypothese zur Erklärung der wunderlichen Körperform: Chapman Pincher hatte die von der Evolution herausgearbeitete Besonderheit der Giraffen nicht im Hals gesehen, sondern in den Vorderbeinen, die eine raschere Flucht vor den Hauptfeinden ermöglichten, den Löwen (Nature 164, S. 29).
Nun sind Giraffen durchaus rasch – eine mögliche Wurzel des Namens liegt in xarafah gleich „Schnellgeher“–, sie können mit 60 km/h losziehen. Aber die Schnellsten sind nicht die Bullen – die müssen es nicht sein, sie sind wehrhaft –, sondern die am höchsten Gefährdeten, die Jungen.
Weite Sicht. Aber wie auch immer er gekommen ist, mit seinen über zwei Metern ist der Hals der längste im Säugetierreich – das hat die Giraffe Conservation Foundation dazu veranlasst, den längsten Tag des Jahres, den 21. 6., zu dem ihres Schutzbefohlenen auszurufen –, und er bringt den Kopf in eine Höhe, die den Vorteil der weiten Sicht hat, die Ägypter nannten die Giraffe deshalb mehrdeutig „Seher“. Er hat der Physiologie aber auch Probleme gebracht, vor allem die der langen Leitungen. Etwa bei den Nerven: Bis von den Fußsohlen Informationen über die Beschaffenheit des Bodens ins Gehirn geliefert und von dort Befehle für den nächsten Schritt zurückgelaufen sind, vergehen 100 Millisekunden, da sind die Beine beim Galoppieren längst unterwegs, Heather Moore (Simon Fraser University) hat es gemessen (Journal of Experimental Biology 216, S. 1003).
Noch drückendere Probleme stellt das zweite große Leitungssystem, das für das Blut, das ins Gehirn hinaufgepumpt werden muss und dazu einen Druck braucht, der 2,5-mal so hoch ist wie bei uns. Davon müssen die Gefäßwände entlastet werden, Kandidat ist eine Variante des Gens FGRL1. Auf die wurde in der ersten Analyse des Giraffengenoms 2016 Douglas Caverner (Penns) aufmerksam (Nature Communications 7: 11519): Er fand 70 Gene bzw. Varianten, die nur Giraffen haben, nicht ihre engsten Verwandten, Okapis („Waldgiraffen“), und schon gar nicht die, die die Römer mit ihnen assoziierten, als Cäsar in einem Triumphzug aufmarschieren ließ, was wie eine Mischung von Kamel und Leopard aussah, es ging bei Linnaeus in die Nomenklatur ein: Giraffa camelopardalis.
Wurden die Hälse zum Fressen lang, zum Kämpfen, zum Abstrahlen von Wärme?
Die langen Hälse brachten das Problem der langen Leitungen: Blut muss hoch hinauf.
Über die Funktionen der 70 konnte Caverner nur spekulieren, aber die von FGRL1 stieß ihm ins Auge, weil dieses Gen bei Mäusen und Menschen für einen Wachstumsfaktor zuständig ist, der am Bau des Skeletts und des HerzKreislauf-Systems mitwirkt und bei Mutationen Schäden anrichtet. Ist FGRL1 bei Giraffen zentral für das Strecken der Halswirbel – sie haben nicht mehr als andere Säugetiere: sieben – und für das Abfedern des Blutdrucks? Caverner schlug vor, es mit einem Übertragen der Genvariante der Giraffen auf Mäuse zu testen: „Ultimativ wären Mäuse mit langen Hälsen!“
Durchgeführt hat den Test nun Rasmus Heller (Kopenhagen), der eine zweite Genomanalyse um einem Transfer des Gens auf Mäuse ergänzt hat (Science Advances 7: eabe9459 17. 3.): Längere Hälse wuchsen ihnen nicht. Aber als ihnen Medikamente verabreicht wurden, die für gewöhnlich den Blutdruck in die Höhe treiben, stieg er kaum, sie nahmen auch keinen Schaden, anders als Kontrollmäuse, die bald an höherem Blutdruck litten und an Folgeschäden an Herz und Niere.
„Das FGRL1 der Giraffe bewirkt irgendetwas, was den Effekten hohen Blutdrucks entgegenwirkt“, berichtet Heller, „aber wir wissen noch nicht, was.“Folgeexperimente sollen es klären, Heller hofft auch auf eine Nutzanwendung in der Medizin.