Die verstreute Euphorie
Die erste paneuropäische Fußball-EM in elf Städten sorgt nicht zwingend für mehr Zuspruch. Eine erste Zwischenbilanz aus Bukarest, Amsterdam – und Wien.
Kann eine EM-Endrunde einen ganzen Kontinent in ihren Bann ziehen, und das wortwörtlich? Seit über einer Woche rollt vom spanischen Sevilla bis nach Baku am Kaspischen Meer der Ball inmitten einer globalen Pandemie. Zu übersehen ist dieses Uefa-Projekt auch in Österreich nicht, in den meisten Lokalen laufen die TV-Geräte und halten auch ungefragt auf dem Laufenden. Die einmal im Bekanntenkreis von Großevent-Fans besorgt geäußerte Nachfrage, ob sie denn 2020 die Euro verpasst hätten – das offizielle Merchandise machte die Verschiebung um ein Jahr bekanntlich nicht mit –, lässt sich also eindeutig beantworten: Nein, das bekommt man schon mit. Egal, wo es letztlich stattfindet und wie gut oder schlecht Österreich spielt.
Zu spüren aber ist das Flair, und mit ihm die Massenbewegung, in Wien diesmal (noch) nicht. Das mag auch der wenig mitreißenden Spielweise der österreichischen Mannschaft schon im Vorfeld geschuldet sein, viel mehr aber noch der erst langsam zurückkehrenden Normalität. Die Public Viewings sind rarer und überschaubarer, Bewerbung und rot-weiß-rote Beschmückung fallen dezenter aus. 3-G-Regel und vielfach Reservierung sind für das gemeinsame Erlebnis Pflicht. Statt bei den Zusammenkünften wie in der Vergangenheit auf mitgebrachte Getränke oder Sicherheitsrisken (Stichwort Regenschirm!) kontrolliert zu werden, gilt die Aufmerksamkeit der Securitys beim Einlass heuer ganz dem Wildwuchs an Vorläufern des Grünen Passes.
Die Stimmung unter den zu Hause gebliebenen Fans ist gedämpfter als noch 2016, trotzdem waren einige Locations zu den Österreich-Spielen schon vor dem historischen Auftaktsieg gegen Nordmazedonien ausgebucht. Im Wiener Prater bildete sich am Donnerstagabend vor der Fanzone eine lange Schlange: Nicht alle Wartenden dürften rechtzeitig hineingekommen sein, um den vorentscheidenden Elfmeterpfiff für die Niederlande in der 11. Minute auf der Videowall zu sehen.
Wer bei einem Public Viewing einmal seinen Platz gefunden hat, fühlt sich ein großes Stück weit wie früher:
Geschaut wird nämlich dicht gedrängt, auch der letzte Flecken Boden vor der Leinwand ist besetzt. Gesänge wechseln sich mit Applaus und Schimpftiraden ab, auch der angeheiterte Nebenmann, der seine Umgebung lautstark mit (Fußball-)Weisheiten beglückt, darf nicht fehlen. Noch limitiert die Sperrstunde um Mitternacht Freudentaumel, kollektive Niedergeschlagenheit oder bierschwangere Analysen. Ab 1. Juli wären dem keine Grenzen mehr gesetz, wäre Österreich dann noch dabei, stünde man sensationell im EMViertelfinale – und dieses Turnier bliebe nicht nur wegen der äußeren Umstände in besonderer Erinnerung.
Eine fast vergessene Welt. Noch aber spielt das ÖFB-Team am Montag (18 Uhr, live, ORF 1) gegen die Ukraine erst einmal um den Aufstieg ins Achtelfinale. In Bukarest ist die Situation eine spezielle, denn Rumänien ist neben Aserbaidschan (Spielort Baku) einer von nur zwei Gastgebern, der selbst nicht an dieser Endrunde teilnimmt. Die nationale Auswahl scheiterte zunächst in der EM-Qualifikation (Gruppenplatz vier hinter Spanien, Schweden und Norwegen) und vergab dann auch noch die zweite Chance im Nations-League-Play-off gegen Island.
Es ist also wenig verwunderlich, dass die große Euphorie hier nicht zuhause ist, vermisst man zudem doch die erste Garde des europäischen Fußballs in Bukarest. Mit den in der imposanten Arena Nationala ausgetragenen Spielen Österreich – Nordmazedonien, Ukraine – Nordmazedonien und Österreich – Ukraine werden die rumänischen Fußballfans nicht wirklich warm. 13.000 bzw 10.000 Zuschauer verfolgten die ersten beiden Partien im Stadion, damit wurde das Kartenkontingent (13.750 Zuschauer, 25 Prozent von 55.000) nicht einmal voll ausgeschöpft. Dass in der Altstadt von Bukarest in den Abendstunden der ersten
Turnierwoche dennoch Partystimmung aufkam, war zu einem nicht unwesentlichen Teil auf den euphorisierten mazedonischen Anhang zurückzuführen. Die Fans vom Balkan waren schon im Spiel gegen Österreich nominell klar in der Überzahl, sie waren auch sehr viel lauter – und sie feierten die erstmalige Teilnahme ihrer Mannschaft an einem Großereignis, daran konnten auch die bisherigen Niederlagen nichts ändern.
Und Bukarest eignet sich dieser Tage überraschend gut zum Feiern, das musste vor allem für die österreichischen Gäste irgendetwas zwischen erfreulich bis irritierend sein. Denn während in der Heimat Eintrittstests in der Gastronomie längst zur Normalität geworden sind, gleichen die Alltagsszenen in Bukarest vielmehr einem Leben aus einer fast vergessenen Zeit. Wer hier beim Betreten eines Lokals Maske trägt, gehört einer Minderheit an. Und mit der Sperrstunde (Mitternacht) nehmen es weder alle Gastronomen noch Polizei so genau.
Verhaltenes Amsterdam. In Amsterdam, wo Österreichs Nationalteam sein zweites Spiel gegen die Niederlande (0:2) bestritt, ticken die Uhren anders. Bis kommenden Freitag steht die Sperrstunde bei 22 Uhr – und daran hält man sich. Der EM-Stimmung ist das zwangsläufig nicht zuträglich, weil die Abendspiele (21 Uhr) dadurch nicht gemeinsam beim Public Viewing verfolgt werden können. Doch auch sonst sind die fußballverrückten Niederländer auffällig zurückhaltend.
Nur vereinzelt sieht man in der Innenstadt für Sportgroßveranstaltungen typische orange geschmückte Restaurants und Bars. „Für uns beginnt die EM erst richtig mit dem Achtelfinale“, sagt Michael, ein Fan. Wie passend, dass genau dann, am 26. Juni, die Sperrstunde fällt. Fakt ist: Die Coronapandemie ist gewiss ein Spielverderber, die erste paneuropäische EM in insgesamt elf Städten lässt aber unabhängig davon viel vom üblichem Flair und Euphorie vermissen. Nur weil ein Turnier über ganz Europa verteilt wird, wird der Zuspruch deshalb nicht automatisch mehr. Im Gegenteil.
Immerhin, Public Viewing ist fast wie früher: Gedränge, Gesänge und Schimpftiraden.