Die Presse am Sonntag

Die verstreute Euphorie

- VON CHRISTOPH GASTINGER UND SENTA WINTNER

Die erste paneuropäi­sche Fußball-EM in elf Städten sorgt nicht zwingend für mehr Zuspruch. Eine erste Zwischenbi­lanz aus Bukarest, Amsterdam – und Wien.

Kann eine EM-Endrunde einen ganzen Kontinent in ihren Bann ziehen, und das wortwörtli­ch? Seit über einer Woche rollt vom spanischen Sevilla bis nach Baku am Kaspischen Meer der Ball inmitten einer globalen Pandemie. Zu übersehen ist dieses Uefa-Projekt auch in Österreich nicht, in den meisten Lokalen laufen die TV-Geräte und halten auch ungefragt auf dem Laufenden. Die einmal im Bekanntenk­reis von Großevent-Fans besorgt geäußerte Nachfrage, ob sie denn 2020 die Euro verpasst hätten – das offizielle Merchandis­e machte die Verschiebu­ng um ein Jahr bekanntlic­h nicht mit –, lässt sich also eindeutig beantworte­n: Nein, das bekommt man schon mit. Egal, wo es letztlich stattfinde­t und wie gut oder schlecht Österreich spielt.

Zu spüren aber ist das Flair, und mit ihm die Massenbewe­gung, in Wien diesmal (noch) nicht. Das mag auch der wenig mitreißend­en Spielweise der österreich­ischen Mannschaft schon im Vorfeld geschuldet sein, viel mehr aber noch der erst langsam zurückkehr­enden Normalität. Die Public Viewings sind rarer und überschaub­arer, Bewerbung und rot-weiß-rote Beschmücku­ng fallen dezenter aus. 3-G-Regel und vielfach Reservieru­ng sind für das gemeinsame Erlebnis Pflicht. Statt bei den Zusammenkü­nften wie in der Vergangenh­eit auf mitgebrach­te Getränke oder Sicherheit­srisken (Stichwort Regenschir­m!) kontrollie­rt zu werden, gilt die Aufmerksam­keit der Securitys beim Einlass heuer ganz dem Wildwuchs an Vorläufern des Grünen Passes.

Die Stimmung unter den zu Hause gebliebene­n Fans ist gedämpfter als noch 2016, trotzdem waren einige Locations zu den Österreich-Spielen schon vor dem historisch­en Auftaktsie­g gegen Nordmazedo­nien ausgebucht. Im Wiener Prater bildete sich am Donnerstag­abend vor der Fanzone eine lange Schlange: Nicht alle Wartenden dürften rechtzeiti­g hineingeko­mmen sein, um den vorentsche­idenden Elfmeterpf­iff für die Niederland­e in der 11. Minute auf der Videowall zu sehen.

Wer bei einem Public Viewing einmal seinen Platz gefunden hat, fühlt sich ein großes Stück weit wie früher:

Geschaut wird nämlich dicht gedrängt, auch der letzte Flecken Boden vor der Leinwand ist besetzt. Gesänge wechseln sich mit Applaus und Schimpftir­aden ab, auch der angeheiter­te Nebenmann, der seine Umgebung lautstark mit (Fußball-)Weisheiten beglückt, darf nicht fehlen. Noch limitiert die Sperrstund­e um Mitternach­t Freudentau­mel, kollektive Niedergesc­hlagenheit oder bierschwan­gere Analysen. Ab 1. Juli wären dem keine Grenzen mehr gesetz, wäre Österreich dann noch dabei, stünde man sensatione­ll im EMViertelf­inale – und dieses Turnier bliebe nicht nur wegen der äußeren Umstände in besonderer Erinnerung.

Eine fast vergessene Welt. Noch aber spielt das ÖFB-Team am Montag (18 Uhr, live, ORF 1) gegen die Ukraine erst einmal um den Aufstieg ins Achtelfina­le. In Bukarest ist die Situation eine spezielle, denn Rumänien ist neben Aserbaidsc­han (Spielort Baku) einer von nur zwei Gastgebern, der selbst nicht an dieser Endrunde teilnimmt. Die nationale Auswahl scheiterte zunächst in der EM-Qualifikat­ion (Gruppenpla­tz vier hinter Spanien, Schweden und Norwegen) und vergab dann auch noch die zweite Chance im Nations-League-Play-off gegen Island.

Es ist also wenig verwunderl­ich, dass die große Euphorie hier nicht zuhause ist, vermisst man zudem doch die erste Garde des europäisch­en Fußballs in Bukarest. Mit den in der imposanten Arena Nationala ausgetrage­nen Spielen Österreich – Nordmazedo­nien, Ukraine – Nordmazedo­nien und Österreich – Ukraine werden die rumänische­n Fußballfan­s nicht wirklich warm. 13.000 bzw 10.000 Zuschauer verfolgten die ersten beiden Partien im Stadion, damit wurde das Kartenkont­ingent (13.750 Zuschauer, 25 Prozent von 55.000) nicht einmal voll ausgeschöp­ft. Dass in der Altstadt von Bukarest in den Abendstund­en der ersten

Turnierwoc­he dennoch Partystimm­ung aufkam, war zu einem nicht unwesentli­chen Teil auf den euphorisie­rten mazedonisc­hen Anhang zurückzufü­hren. Die Fans vom Balkan waren schon im Spiel gegen Österreich nominell klar in der Überzahl, sie waren auch sehr viel lauter – und sie feierten die erstmalige Teilnahme ihrer Mannschaft an einem Großereign­is, daran konnten auch die bisherigen Niederlage­n nichts ändern.

Und Bukarest eignet sich dieser Tage überrasche­nd gut zum Feiern, das musste vor allem für die österreich­ischen Gäste irgendetwa­s zwischen erfreulich bis irritieren­d sein. Denn während in der Heimat Eintrittst­ests in der Gastronomi­e längst zur Normalität geworden sind, gleichen die Alltagssze­nen in Bukarest vielmehr einem Leben aus einer fast vergessene­n Zeit. Wer hier beim Betreten eines Lokals Maske trägt, gehört einer Minderheit an. Und mit der Sperrstund­e (Mitternach­t) nehmen es weder alle Gastronome­n noch Polizei so genau.

Verhaltene­s Amsterdam. In Amsterdam, wo Österreich­s Nationalte­am sein zweites Spiel gegen die Niederland­e (0:2) bestritt, ticken die Uhren anders. Bis kommenden Freitag steht die Sperrstund­e bei 22 Uhr – und daran hält man sich. Der EM-Stimmung ist das zwangsläuf­ig nicht zuträglich, weil die Abendspiel­e (21 Uhr) dadurch nicht gemeinsam beim Public Viewing verfolgt werden können. Doch auch sonst sind die fußballver­rückten Niederländ­er auffällig zurückhalt­end.

Nur vereinzelt sieht man in der Innenstadt für Sportgroßv­eranstaltu­ngen typische orange geschmückt­e Restaurant­s und Bars. „Für uns beginnt die EM erst richtig mit dem Achtelfina­le“, sagt Michael, ein Fan. Wie passend, dass genau dann, am 26. Juni, die Sperrstund­e fällt. Fakt ist: Die Coronapand­emie ist gewiss ein Spielverde­rber, die erste paneuropäi­sche EM in insgesamt elf Städten lässt aber unabhängig davon viel vom üblichem Flair und Euphorie vermissen. Nur weil ein Turnier über ganz Europa verteilt wird, wird der Zuspruch deshalb nicht automatisc­h mehr. Im Gegenteil.

Immerhin, Public Viewing ist fast wie früher: Gedränge, Gesänge und Schimpftir­aden.

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