Schönes, furchtbares Moskau
Keith Gessen verknüpft in »Ein schreckliches Land« die Frage nach dem Preis der Emigration mit feinem Humor und detaillierten Schilderungen der russischen Nullerjahre.
Moskau, Sommer 2008. Andrej Kaplan kehrt nach sieben Jahren erstmals wieder nach Moskau zurück, in die Stadt seiner Eltern. Sein älterer Bruder Dima hat ihn gebeten, sich um die betagte Großmutter zu kümmern. Die 89-jährige „Baba Seva“, wie sie von den Enkeln liebevoll genannt wird, lebt in einer Wohnung im Zentrum Moskaus, nur einen Steinwurf vom Kreml und der früheren KGBZentrale entfernt. Doch so vertraut ihr diese Umgebung früher war, so fremd wird sie ihr zusehends. Baba Seva leidet an Altersdemenz. Ihr Enkel versucht, so gut es geht, für sie zu sorgen, während der ältere, in Moskau lebende Bruder aus undurchsichtigen Gründen nach London reisen musste.
Beide Brüder haben ein ganz unterschiedliches Temperament: Andrej, Anfang 30, ist ein Akademiker voller Selbstzweifel. Die Karriere des studierten Slawisten will nicht so recht in Gang kommen; die Reise nach Moskau ist für ihn eine willkommene Flucht vor seiner prekären Lage. Dima ist (zumindest nach außen hin) ein selbstsicherer, erfolgreicher Geschäftsmann. Die Emigration der Familie zu Beginn der 1980er-Jahre hat das Leben der Geschwister unwiderruflich geprägt, wie Ich-Erzähler Andrej darlegt: „Ich war sechs, und Dima war sechzehn, und das war ein entscheidender Unterschied. Ich wurde Amerikaner, während Dima im Grunde ein Russe blieb.“
Verlorene Zeit. Keith Gessens Roman „Ein schreckliches Land“ist eine Familiengeschichte, die die Frage aufwirft, wie hoch der Preis der Emigration ist. Während für Andrej die USA zur selbstverständlichen Heimat geworden sind, konnten seine Eltern nur schwer Fuß fassen. Sie blieben stets Emigranten, unter ihresgleichen: „Meine Eltern waren ausgewandert, natürlich, aber nur in ein Russland mitten in Amerika.“Aus den Plänen, die Großmutter aus Moskau in die neue Heimat zu bringen, wird nie etwas. Es sind Jahre, die für Baba Seva eine einsame Existenz bedeuten und ihrem Enkel nun schwer auf der Brust liegen.
Der Autor weiß, wovon er spricht: Wie die Familie seines Protagonisten ist auch seine aus der Sowjetunion in
Keith Gessen
Ein schreckliches Land
Übersetzt von
Jan Karsten CulturBooks Verlag 456 Seiten
24,95 Euro die USA emigriert. Keith Gessen ist der jüngere Bruder von Masha Gessen, der bekannten Journalistin und Buchautorin. Die Geschichte der Moskauer Familie spielt in einem jüdischen Milieu, das in der Sowjetzeit oftmals soziale Nachteile bedeutete – diese Erfahrung und andere Schrecken der Vergangenheit verfolgen die Großmutter bis zum heutigen Tag.
„Ein schreckliches Land“ist auch – zumindest zu Beginn – eine gemächliche, fast anthropologische Beschreibung der russischen Hauptstadt in den späten Nullerjahren. Andrej, der ständig unter Geldsorgen leidet und sich im aufstrebenden Moskau gerade mal einen Cappuccino in den hippen Cafe´s leisten kann, nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, wie rasend schnell die Stadt sich verändert, wie neue, glitzernde Businesszentren entstehen und die brüchigen Verkaufsbuden allmählich verschwinden. Er stößt sich an den russischen Widersprüchen, den stereotypen Geschlechterbildern, der selbstbewussten Arroganz der Neureichen. Was wollen die Russen? Es ist ihm ein Rätsel. In der Küche seiner Großmutter hört er den oppositionellen Radiosender Echo Moskwy. Wenn sie ihn fragt, wie die Lage sei, weiß er keine Antwort: „Ich konnte es nicht sagen! Es war eine Art moderner Autoritarismus. Oder eine autoritäre Modernisierung. Oder so. Ich versuchte, sie auf dem Laufenden zu halten, und sie nickte tapfer.“
Kundig und berührend. Gessen beweist eine hervorragende Beobachtungsgabe; seine Schilderungen stecken voller interessanter Details, sind kundig und berührend. Auch die Politik kommt nicht zu kurz – und das ist der Moment, wo die Probleme für Andrej beginnen. Er lernt eine Gruppe linker Systemkritiker kennen, nimmt an Aktionen teil und verliebt sich in eine junge Aktivistin. Damit kommt er dem „schrecklichen Land“näher, als er es je wollte.