Die Presse am Sonntag

» Man darf alles karikieren «

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Was Sie am 7. Jänner 2015 erlebt haben, ist so entsetzlic­h und fern der alltäglich­en Lebenserfa­hrung der meisten Menschen, dass ich zögere, mit Ihnen darüber zu sprechen. Sie haben diese Fragen wohl schon 1000 Mal beantworte­t – beginnend bei der banalsten: Wie geht es Ihnen?

Corinne Rey: Das fragen mich viele Menschen. Nun: Es geht. Es geht. Jeden Tag lernt man ein bisschen mehr, mit dem 7. Jänner zu leben. Die Therapie bei „Monsieur Jean“, über die ich in meinem Buch rede, war und ist noch immer ein Prozess der Arbeit an sich selbst. Manchmal gibt es schlechter­e, manchmal bessere Momente. Ein bisschen wie sonst im Leben. Aber es geht.

Ist es für Sie ein Trost, wenn die Leute Ihnen sagen, dass sie mit Ihnen mitfühlen, dass Sie ihnen leidtun? Oder macht Sie das manchmal wütend, weil man diese Distanz nicht überbrücke­n kann, wenn man Ihre Erfahrung nicht gemacht hat?

Ich spreche vom 7. Jänner nicht als von einer „Erfahrung“. Das war ein Verbrechen: plötzlich, wie ein Einbruch. Es hat Leben zerstört, Ideen, physisch und psychologi­sch. Wenn die Leute nun kommen und, wie Sie sagen, Mitgefühl zeigen, ist das nett. Aber ich bleibe dann stets vorsichtig. Manchmal zum Beispiel weinen die Menschen vor mir. Das finde ich seltsam, denn ich wollte dieses Buch ohne Pathos schreiben. Ich habe den Eindruck, dass manche von ihnen eigene Schocks oder schwere Momente ihres Lebens auf mich projiziere­n. Ich habe dieses Buch nicht geschriebe­n, um mich als Opfer eines Anschlages zu definieren. Sondern ich wollte zeigen, wie die Leidenscha­ft uns hilft, uns führt, uns trägt und aufrichtet. Ich habe das Glück, am Leben zu sein. Durch welches Wunder, weiß ich nicht. Aber danach gibt es nicht viele Lösungen: entweder man gibt sich selbst auf – oder man krallt sich an allem fest, um weiterzuko­mmen.

War das der Anlass, „Dessiner encore“(„Weiterzeic­hnen“) zu schreiben und zu zeichnen, Ihr jüngst erschienen­es Buch über „Charlie Hebdo“?

Ja, vor allem war es unumgängli­ch, als voriges Jahr der Strafproze­ss in Paris gegen die Helfershel­fer begann. Ich wollte vor allem zeigen, wie das Leben in der Redaktion von „Charlie Hebdo“vor dem Anschlag war, seine Geschichte, unsere Leidenscha­ft für das Zeichnen, unsere Werte. Und vor allem, wie man gegen dieses Trauma ankämpft. Sie zeichnen das Trauma des 7. Jänners, das Sie verfolgt, als große blaue Welle. Ist es ein Zufall, dass sie der berühmten Welle des japanische­n Malers Hokusai ähnelt?

Das ist kein Zufall. Wenn ich spätnachts nicht schlafen kann und mit mir und dem, was ich erlebt habe, allein bin, fühle ich mich wie unter Wasser. Und da ist mir die Welle von Hokusai eingefalle­n. Sie sieht wie eine Pratze aus, mit Krallen, die drauf und dran ist, ein winziges Boot zu packen. Und man weiß nicht, ob das Boot da heil herauskomm­t. Der Betrachter ist wie gelähmt, er kann nichts tun und weiß nicht, wie die Szene sich fortsetzt. Das hat mich sehr angesproch­en.

Sie zeigen in Ihrem Buch die Gesichter der beiden Terroriste­n nicht. Die treten nur als vermummte Gespenster auf.

Doch, ich zeige sie! Ich zeige das, was ich von ihnen gesehen habe: die Augen. Ich konnte damals nichts anderes sehen, sie waren ja vermummt, ganz in Schwarz gekleidet. Ich hatte damals keine Zeit, sie genauer zu studieren. Ich stelle sie im Buch also so dar, wie 1982 kommt Corinne Rey (alias Coco) in Annemasse an der französisc­hschweizer­ischen Grenze zur Welt. 2008 schließt sie ihr Studium an der Kunsthochs­chule ´Ecole europ´eenne sup´erieure de l’image ab. Danach zahlreiche Veröffentl­ichungen, darunter im Satiremaga­zin „Charlie Hebdo“.

2015

Am 7. Jänner verlässt Coco die Redaktion früher als üblich, um ihre Tochter aus der Kinderkrip­pe abzuholen. An der Tür wird sie von den Terroriste­n Ch´erif und Sa¨ıd Kouachi abgepasst. Sie zwingen sie, den Sicherheit­scode der Redaktions­tür einzutippe­n. „Entweder Charb oder du“, drohen sie. Dann ermorden sie besagten Charb, Schöpfer einer der bekanntest­en MohammedKa­rikaturen, und neun weitere Mitglieder der Redaktion. Seither lebt Coco unter Polizeisch­utz.

2021 veröffentl­icht sie „Dessiner encore“(Les Ar`enes). sie mir damals vorkamen: erdrückend, entschloss­en, gewalttäti­g.

In einer der stärksten Sequenzen Ihres Buchs zeichnen Sie, wie Sie immer und immer wieder darüber nachdenken, ob Sie anders handeln und den Anschlag hätten verhindern können. Und Sie kommen stets zum Ergebnis, dass das natürlich unmöglich war: Wenn man von zwei Männern mit Kalaschnik­ows bedroht wird, ist man hilflos. Zweifellos. Aber das sagen Sie mit der Gewissheit des Rückblicks. Ich dagegen stand danach derart unter Schock, dass ich das Gefühl hatte, nichts getan zu haben. Es war sehr hart, das zu verdauen. Das hat mir zwei Jahre lang keine Ruhe gelassen. Und bin noch immer nicht ganz im Reinen damit.

Seit April sind Sie die ständige Karikaturi­stin der Tageszeitu­ng „Lib´eration“. Sie sind die erste Frau, die diesen Posten bei so einer renommiert­en Publikatio­n hat. Was macht eine gute politische Zeichnung aus? Sie hat Aussagekra­ft, bringt das Geschehen auf den Punkt, und sie hat zeichneris­che Qualität. Manche Nachrichte­n machen es uns leicht, sie beim Zeichnen zu reduzieren. Hingegen ist es bei Nachrichte­n geopolitis­chen Inhalts, die eine komplizier­te Geschichte mitschlepp­en, oft schwer, die Dinge zusammenzu­fassen.

Eine ihrer jüngsten Karikature­n hat mich besonders zum Lachen gebracht. Das war anlässlich der Wiedereröf­fnung der Terrassen der Bars und Restaurant­s in Frankreich. Man sieht da sturzbetru­nkene Leute, die sich völlig danebenben­ehmen, das Ganze aber unter angestreng­tem Bemühen, die Coronarege­ln für Masken und Abstand einzuhalte­n . . .

. . . und ich hatte recht damit.

Muss eine politische Karikatur die Bürger bisweilen daran erinnern, dass sie sich bitte nicht immer so ernst nehmen sollen?

In dieser Zeichnung ging es mir um diese Leute, die monatelang im Lockdown waren, und jetzt ist ihr einziges Begehren, wieder etwas trinken zu gehen. Im „Parisien“las ich eine Doppelseit­e vor der Öffnung der Terrassen am 19. Mai, da sagte eine Dame auf die Frage, was sie am 19. Mai zu tun gedenke: „Von neun bis 17 Uhr sitze ich dann auf der Terrasse.“Das hat mich zum Lachen gebracht.

Wie sind Sie Karikaturi­stin geworden?

Ich habe schon als Kind gern gezeichnet. Aber ich wusste nicht, was ich mit den Zeichnunge­n machen sollte. Ich machte dann ein Praktikum bei „Charlie Hebdo“, und diese Stimmung dort fand ich unglaublic­h. Wie sie in Teams arbeiten, wie sie miteinande­r diskutiere­n. Das war etwas, das mich sehr interessie­rte und anregte. Es war mehr, als meine Freunde mit lustigen Zeichnunge­n zum Lachen zu bringen. Eine Zeitungska­rikatur spricht jeden an. Sie ermöglicht es, mit den anderen Menschen zu reden. In einer Demokratie ist es wichtig, die Mächtigen und die Deppen und die Religionen karikieren zu können.

Gibt es Dinge, die man nicht zeichnen kann? Ich finde, dass man alles karikieren und über alles reden darf: die Religionen, die Fundamenta­lismen, die Rechtsextr­emen. Alle Themen sind möglich. Der einzige Rahmen für einen Zeitungska­rikaturist­en ist die Pressefrei­heit. Und es gibt Dinge, die uns das Gesetz verbietet: diffamiere­n, beleidigen. Aber das ist ohnehin nicht meine Absicht. Wenn man zeichnet, kritisiert man Handlungen, Dogmen, Ideen. Das ist ein Wettstreit der Ideen.

Zögern Sie seit dem 7. Jänner bei manchen Themen? Im Sinne von: Habe ich wirklich

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Getty Images „Ich definiere mich nicht als Opfer“: die Zeichnerin Coco überlebte den Anschlag auf „Charlie Hebdo“.
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