Die iranische Provinz Irak
Teheran hat im Irak so viel Einfluss wie nie zu vor. Die USA, die ihre Truppen dort stark reduzierten, sind da fast machtlos. Iran-treue Milizen kontrollieren faktisch das Gros des Landes und haben Politik, Militär und Verwaltung infiltriert.
Sadschads linker Arm liegt in einer blauen Binde eng am Körper angelegt. Aus der Bandage ragt das Metallgestänge heraus, das den Knochen stabilisiert. „Ein Heckenschütze hat mich getroffen“, erzählt der 27-Jährige vor einem Glas Wasser mit Minze auf der Dachterrasse der Babylon Shopping Mall in Bagdad. Der Wind oben im Freien macht die Nachmittagshitze von 48 Grad einigermaßen erträglich. Zudem hat man einen atemberaubenden Blick über die Skyline der Acht-Millionen-Hauptstadt mit Villen, Hochhäusern und Palmenhainen.
Sadschad holt sein Handy hervor und zeigt die Bilder jenes verhängnisvollen Tags, als er verwundet wurde. Fotos vom Loch, das die Kugel in den Oberarm riss, und wie er schmerzverzerrt auf einer Bahre liegt. Videos von Menschen, die im Kugelhagel um ihr Leben laufen. Fünf bleiben tot liegen. Das war vor sechs Wochen, als Sadschad mit rund 7000 anderen wieder einmal auf dem Tahrir-Platz gegen das „korrupte Regime der herrschenden Elite im Irak“auf die Straße ging. Es war die vorerst letzte der Protestveranstaltungen, die seit Oktober 2019 regelmäßig auf dem Platz der Befreiung stattfanden. „Nun ist alles vorbei“, sagt der großgewachsene junge Kerl im lindgrünen T-Shirt. „Alle haben Angst, wieder auf die Straße zu gehen. Wer demonstriert, den erwartet der Tod.“
Überall und jederzeit lauert der Tod. Die Zahlen sprechen für sich: Seit Beginn der Proteste wurden mindestens 600 Demonstranten erschossen. Und es ist nicht nur diese Angst, die die Leute jetzt zurückhält. Es ist die Gefahr, jederzeit und überall aus dem Hinterhalt abgeknallt zu werden. Seit 2019 zählte Iraks Menschenrechtskommission 81 Mordversuche an Journalisten, Aktivisten und Akademikern. 47 überlebten teils schwer verletzt. 34 starben beim Einkaufen oder vor ihrem Haus, darunter Hisham al-Hashimi. Der Sicherheitsexperte und Berater von Premier Mustafa al-Kadhimi wurde erschossen, als er vor seiner Wohnung parkte.
Er hatte sich mächtige Feinde gemacht, nämlich die Iran-treuen Milizen der Volksmobilisierungkräfte (PMF). Diese waren 2014 gegründet worden, um die IS-Terrormiliz zu bekämpfen. Es gibt wohl mehr als 40 einzelne PMF-Gruppen, die offiziell der irakischen Armee unterstellt sind, aber letztlich auf den Iran hören. Zu ihnen zählen Kataib Hisbollah, Asaib al-Haq und die Imam-Ali-Brigade. Die Protestbewegung hatte auch gegen diese Milizen und Irans Einfluss demonstriert. Grund genug, dass Aktivisten ebenfalls auf der Todesliste landeten.
Die Morde sind bis heute nicht aufgeklärt und es gibt keine Anzeichen, dass die Verdächtigen je vor Gericht kommen. „Völlige Straffreiheit“konstatierte ein Bericht von Human Rights Watch den Mördern. „Es gibt keine Gerechtigkeit, und nichts wird sich ändern“, sagt der verletzte Sadschad bedrückt. Im Oktober sind Neuwahlen angesetzt. Aber die geben ihm keine Hoffnung. Dabei wurde das Wahlrecht geändert. Es gibt nun mehr Wahlbezirke, um auch unabhängigen Kandidaten eine Chance zu geben. Aber: „Solang der Iran das Sagen hat, wird alles nur schlimmer“, glaubt Sadschad.
Die Milizen unter der Direktive Teherans sind ein Staat im Staat. Der IS ist zwar seit 2017 besiegt. Damit hätten die PMF ihren Zweck erfüllt. Aber sie wollen nicht abtreten. Und schon gar nicht die klar iranischen Milizen, die ihre Macht ausbauen wollen. Sie haben Militär und Verwaltung unterwandert, ihre Vertreter sitzen in Parlament und Regierung. Sie sind unantastbar wie die Mafia in ihrer „Goldenen Ära“vor 100 Jahren.
Ein allumfassendes Finanznetz. Zudem haben sie ein Finanzierungssystem errichtet. „Über ihre Posten in Ministerien erhalten befreundete Unternehmer Aufträge“, beginnt Haidar al-Rubay, ein bekannter Politikberater im Irak, aufzuzählen. „Sie bauen Straßen, Krankenhäuser, Schulen.“Dazu komme die Kontrolle von Checkpoints, Grenzübergängen nach Syrien und in den Iran. So profitierten sie vom legalen Warenverkehr und vom Schmuggel. Weitere Quellen seien die Beteiligung an Geldwechselstuben, am informellen Geldtransfersystem Hawala, an Geldwäsche sowie Schutzgelder von Restaurants und Geschäften. „Das bringt ihnen Abermillionen ein, die sie in Banken, im Bausektor und anderen Industriezweigen reinvestieren“, erklärt alRubay. Das sei freilich im Irak nicht außergewöhnlich: „Alle politischen Gruppierungen haben ihr Finanzsystem, das auf Gefolgsleuten, Unternehmern, Mittelsmännern und Freunden basiert.“
Die PMF-Milizen hätten da nur gleichgezogen. Und wurden zum Machtfaktor. Sie verfügen geschätzt über rund 164.000 Soldaten, von denen 70.000 direkt im Sold der iranischen Milizen stehen und von dort bewaffnet werden. Sie haben ein landesweites Netzwerk von Basen und Checkpoints, die mit lokalen Behörden verquickt sind. Das eröffnet neue Geldquellen, etwa Agrarland und Ölförderung.
Teheran hat heute im Irak so viel Einfluss wie nie zu vor. Die USA, die ihre Truppen dort auf 2500 Mann reduzierten, sind da fast machtlos. ExUS-Präsident Donald Trump ließ im Jänner durch eine Kampfdrohne zwar den mächtigen iranischen General Qassem Soleimani, verantwortlich für Irans Auslandsoperationen, und Abu Mahdi al-Muhandis, den Führer der PMF, in Bagdad ausschalten. Aber ihr Tod hatte keine nennenswerte Auswirkung
auf die Gesamtlage und die Angriffe auf US-Einrichtungen. Diese Woche fielen erneut Geschosse auf eine Basis im Nordirak und auf die Botschaft Washingtons in Bagdad.
„Die Ermordung Soleimanis und al-Muhandis’ war kontraproduktiv“, behauptet Baha Aradschi, einst Vizepremier des Irak. „Ohne diese starken Führerfiguren weiß man nicht mehr, wie man die Milizen kontrollieren kann.“Aradschi wirkt müde in seinem Lehnsessel und versprüht keinen Optimismus. „Die Milizen haben die Macht“, sagt er lapidar. „Premierminister al-Kadhimi hat mehrfach versucht, sie in die Schranken zu weisen. Aber er hat keine Macht.“Nicht einmal sein Militär würde ihm folgen.
Aradschi tritt bei den Wahlen im Oktober als unabhängiger Kandidat an. Ganz überzeugt von einem Erfolg scheint er nicht zu sein. „Bei mir im Büro kommen täglich Leute vorbei, die Hunderte von Personalausweisen und damit Wahlstimmen verkaufen wollen“, erzählt er. „Das tun sie natürlich auch bei anderen Politikern.“Es ist der übliche Betrug, der sich im Irak von Wahl zu Wahl wiederholt. „Natürlich kann man sich nicht den Gesamtsieg erkaufen“, meint Aradschi, „aber zumindest zehn bis 15 Prozent der Stimmen.“Das sei halt kostspielig. Er selbst veranschlagt „zwischen 30 und 40 Millionen Dollar“. Er lächelt süffisant, als sei das eben der Wetteinsatz, den manche ins Glücksspiel investieren, das man im Irak „Politik“nennt.
Geheimer Widerstand. Auf ein Glücksspiel will sich Laith Shubber dagegen nicht mehr einlassen, und schon gar nicht, wenn es um die Vormachtstellung des Irans geht. Der Berater des 2019 zurückgetretenen Premiers Adil Abdul-Mahdi will den Irak mit aller Gewalt von der „iranischen Besetzung befreien“. Dazu hat Shubber den „Geheimen Nationalen Widerstand“gegründet. Auf Twitter kann jeder dem Netzwerk beitreten. Für Shubber ist der Irak zu einer iranischen Provinz verkommen. Demokratie und Freiheit müssten notfalls mit Gewalt wiederhergestellt werden. Kein Wunder, dass Shubber abgetaucht ist. Treffen will er niemanden. Nachrichten tauscht er nur mit Menschen aus, die er kennt. „Ich stehe an erster Stelle der Todesliste“, schreibt Shubber der „Presse am Sonntag“.
»Solang der Iran im Irak das Sagen hat, wird alles nur noch schlimmer.«
Es ist der übliche Betrug, der sich im Irak von Wahl zu Wahl wiederholt.
Er scheint den Kampf gegen den Iran zu einer Mission gemacht zu haben und gab dafür alles auf. An ein normales Leben im Irak ist für ihn vorerst nicht zu denken. Shubber setzt auf die „wachsende Wut und den Hass auf das iranische Regime“, die die Revolution bringen sollen. Er kommt damit indes etwas spät. Über zwei Jahre haben Demonstranten dagegen protestiert. Nun ist ihr Wille gebrochen.
Der große Beschwichtiger. In der Ecke des Empfangssalons der Villa mit üppigen Polstermöbeln hängen Fotos von General Soleimani und al-Muhandis. Stolz nimmt Hassan Shaker al-Kaabi darunter auf dem Sofa Platz. Der Kommandeur der 9. Division der PMF und Parlamentsabgeordnete kannte diese „Helden“gut. Er besprach mit ihnen oft Schlachtpläne. „Sie waren für alle Soldaten wie Patenonkel“, erzählt al-Kaabi. Der Fraktionsführer des Iran-hörigen Badr-Blocks im Parlament versteht die Aufregung um die Milizen nicht. Sie seien Teile der irakischen Streitkräfte und täten nur Gutes. „Alle Vorwürfe, sie hätten Morde begangen, haben sich als nichtig erwiesen“, sagt er. Man solle den PMF lieber danken wegen des Sieges über den IS. Mit Angriffen auf USEinrichtungen hätten sie nichts zu tun. „Das sind vielleicht unorganisierte Widerstandsgruppen oder Individuen, die jemand dafür bezahlt hat“.
Al-Kaabi ist mit seinen gut 60 Jahren ein Mann der alten Schule, ein Kämpfer, der den Krieg vermisst. Sein Weltbild ist einfach gestrickt. Aber er kann es sich leisten. Seine Milzen sitzen in der Machtzentrale im Irak.