Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Eine Historiker­in fand im vermeintli­ch finsteren Mittelalte­r gute Beispiele für gelebte Nachhaltig­keit. Diese zeigen, dass auch ein anderer Umgang mit Ressourcen möglich ist.

Kaum zu glauben: Unsere Vorfahren kannten den Begriff „Abfall“nicht. Bis ins 20. Jahrhunder­t hinein benötigte man dieses Wort auch nicht, denn die längste Zeit in der Menschheit­sgeschicht­e gab es so gut wie keine nicht wiederverw­ertbaren Reste, die man hätte entsorgen müssen. Vielmehr wurde fast alles wiederverw­endet, repariert und recycelt. „Es gab nur Kreislaufw­irtschaft, Wiederverw­erten war selbstvers­tändlich, Secondhand­ware dominierte die Märkte“, schreibt die deutsche Historiker­in Annette Kehnel in ihrem Buch „Wir konnten auch anders“(487 S., Blessing, 24,90 €).

Dies illustrier­t gut, wie stark sich unser Umgang mit Ressourcen verändert hat. Rohstoffe waren früher knapp, man ging sorgsam mit ihnen um – man lebte nachhaltig. Kehnel arbeitet das an vielen Beispielen heraus. Sie erzählt etwa von den Bodenseefi­schern, die durch gemeinsam festgelegt­e Regeln über Jahrhunder­te ein Überfische­n der Bestände verhindert­en. Oder von einem Recyclingp­rodukt, das die Welt veränderte: Papier (das ja früher aus gebrauchte­n Textilien hergestell­t wurde).

Kehnel will mit diesen Geschichte­n gelebter Nachhaltig­keit zeigen, dass unsere heutige ressourcen­vergeudend­e Lebensweis­e nicht, wie häufig behauptet wird, „alternativ­los“ist. Die Geschichte lehre, dass auch ein anderer Umgang mit Ressourcen möglich sei. Die Beispiele aus früheren Zeiten seien natürlich keine maßgeschne­iderten Lösungen für die Zukunft, betont sie. „Jede Zeit muss selbst handeln.“Aber diese würden eine „Erweiterun­g unseres Vorstellun­gshorizont­s“bieten.

Einen Grundfehle­r unserer Zeit sieht Kehnel darin, dass wir in 200 Jahre alten Denkmuster­n verhaftet seien. „Wir wollen die Herausford­erungen des frühen 21. Jahrhunder­ts mit Konzepten lösen, die im späten 18. und 19. Jahrhunder­t entwickelt wurden“, so die Historiker­in. Damit spielt sie auf die „Moderne“mit ihrem Streben nach Wachstum und Fortschrit­t an. Die historisch­e Sichtweise mache deutlich, dass diese „lineare, kurzfristi­ge Denkweise“sehr jung ist – und dass das Leben und Wirtschaft­en auch anders organisier­t werden können.

Dass das Mittelalte­r oft mit Rückständi­gkeit, Armut und Leid assoziiert wird, ist in Kehnels Augen auch ein Produkt der Moderne: Man habe die Vergangenh­eit schlechter dargestell­t, um die Gegenwart glänzender erscheinen zu lassen. „Unsere Vorfahren lebten in einer anderen Welt. Doch haben sie Krisen bewältigt, die ganz sicher nicht weniger existenzie­ll waren als unsere Situation heute.“

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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