Wort der Woche
BEGRIFFE DER WISSENSCHAFT
Eine Historikerin fand im vermeintlich finsteren Mittelalter gute Beispiele für gelebte Nachhaltigkeit. Diese zeigen, dass auch ein anderer Umgang mit Ressourcen möglich ist.
Kaum zu glauben: Unsere Vorfahren kannten den Begriff „Abfall“nicht. Bis ins 20. Jahrhundert hinein benötigte man dieses Wort auch nicht, denn die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte gab es so gut wie keine nicht wiederverwertbaren Reste, die man hätte entsorgen müssen. Vielmehr wurde fast alles wiederverwendet, repariert und recycelt. „Es gab nur Kreislaufwirtschaft, Wiederverwerten war selbstverständlich, Secondhandware dominierte die Märkte“, schreibt die deutsche Historikerin Annette Kehnel in ihrem Buch „Wir konnten auch anders“(487 S., Blessing, 24,90 €).
Dies illustriert gut, wie stark sich unser Umgang mit Ressourcen verändert hat. Rohstoffe waren früher knapp, man ging sorgsam mit ihnen um – man lebte nachhaltig. Kehnel arbeitet das an vielen Beispielen heraus. Sie erzählt etwa von den Bodenseefischern, die durch gemeinsam festgelegte Regeln über Jahrhunderte ein Überfischen der Bestände verhinderten. Oder von einem Recyclingprodukt, das die Welt veränderte: Papier (das ja früher aus gebrauchten Textilien hergestellt wurde).
Kehnel will mit diesen Geschichten gelebter Nachhaltigkeit zeigen, dass unsere heutige ressourcenvergeudende Lebensweise nicht, wie häufig behauptet wird, „alternativlos“ist. Die Geschichte lehre, dass auch ein anderer Umgang mit Ressourcen möglich sei. Die Beispiele aus früheren Zeiten seien natürlich keine maßgeschneiderten Lösungen für die Zukunft, betont sie. „Jede Zeit muss selbst handeln.“Aber diese würden eine „Erweiterung unseres Vorstellungshorizonts“bieten.
Einen Grundfehler unserer Zeit sieht Kehnel darin, dass wir in 200 Jahre alten Denkmustern verhaftet seien. „Wir wollen die Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts mit Konzepten lösen, die im späten 18. und 19. Jahrhundert entwickelt wurden“, so die Historikerin. Damit spielt sie auf die „Moderne“mit ihrem Streben nach Wachstum und Fortschritt an. Die historische Sichtweise mache deutlich, dass diese „lineare, kurzfristige Denkweise“sehr jung ist – und dass das Leben und Wirtschaften auch anders organisiert werden können.
Dass das Mittelalter oft mit Rückständigkeit, Armut und Leid assoziiert wird, ist in Kehnels Augen auch ein Produkt der Moderne: Man habe die Vergangenheit schlechter dargestellt, um die Gegenwart glänzender erscheinen zu lassen. „Unsere Vorfahren lebten in einer anderen Welt. Doch haben sie Krisen bewältigt, die ganz sicher nicht weniger existenziell waren als unsere Situation heute.“
Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.