Ist Mikroplastik gefährlich?
Die Mengen der Partikel, die in die Umwelt geraten, rauben metaphorisch den Atem. Ob sie auch reale Bedrohungen sind, ist wenig klar.
In 70 Lebensjahren nehmen wir über 21 Millionen Partikel in uns auf.
Das Zeug ist überall, auf den höchsten Gipfeln des Himalaya, in den tiefsten Gräben der Ozeane: Seit Jahren werden Funde an den entlegensten Orten der Erde gemeldet, zuletzt im Eis von Europas größtem Gletscher, dem Vatnajökull in Island (Sustainability 4. 5.) Und doch waren Dunzhu Li und seine Mitarbeiter im Trinity College Dublin mehr als überrascht, als sie im Labor die Plastikbehälter in Augenschein nahmen, in denen sie ihr tägliches Mittagessen im Mikrowellenherd wärmten. Zum Testen füllten sie sie mit Wasser, hinterher waren in einem Liter bis zu 16 Millionen Partikel aus Plastik. „Wir waren schockiert“, berichtete Li Nature (593, S. 22) und schätzte ab, was auf diesem Weg erdweit in die Mägen von Babys kommt, deren Nahrung mit heißem Wasser in Plastikflaschen angerührt und durchgeschüttelt wird: zwischen 14.600 und 4,5 Millionen Partikel in der Größe von weniger als fünf Millimetern (Nature Food 1, S. 746).
Für die führte der Ökologe Richard Thompson (Plymouth) 2004 den Begriff „Mikroplastik“ein, als er sie an einem Strand bemerkte, mit ihnen rückte Plastik ins Zentrum von Umweltund Gesundheitssorgen. Naturschützer hatten lang schon gewarnt, mit drastischen Fotos, die Meeresgetier zeigten, das sich in verlorenen Fischernetzen oder Halterungen von Getränkedosen verfangen hatte, oder vor lauter unverdaulichem Plastik im Magen verhungert war wie Schildkröten, die tot in Hawaii angeschwemmt wurden, oder Wale, die an einer norddeutschen Küste gestrandet waren.
Diese Plastikstücke waren groß, sichtbar mit dem bloßen Auge und, in manchen Meeresregionen von Strömungen zusammengetrieben, auch mit Satelliten. Diese Fraktion macht einen großen Teil des Plastikmülls aus, von dem 2016 erdweit 188 Millionen Tonnen anfielen – bei ungebremstem Trend werden es 2040 380 Millionen sein –, viel davon geht aus Sorglosigkeit in Flüsse und mit ihnen in die Meere.
Dorthin gerät aber auch das kaum Sichtbare, das in Kosmetik ist oder im
Abrieb von Autoreifen oder im Spülwasser von Waschmaschinen, in denen Kleidungsstücke mit Beimischungen aus Plastik gereinigt wurden. Das ist Mikroplastik, und das kommt zurück, mit Meeresfrüchten oder Salz, auch in Mineralwasser hat es sich gefunden, viel wird zudem vom Wind verweht und eingeatmet. Die schieren Mengen rauben metaphorisch den Atem: Erik van Sebille (University College London) schätzte 2015 die Zahl der Partikel in Gewässern auf 15 bis 51 Billionen (1012) Stück (Environmental Research Letters 10 124006); durchschnittlich 883 nimmt jeder Erwachsene pro Tag in sich auf, es summiert sich in einem 70-jährigen Leben auf über 21 Millionen, das kalkulierte Albert Koelmans von der Universität Wageningen (Environmental Science and Technology 55, S. 5084).
Unverdaulich. Raubt das auch nicht metaphorisch den Atem oder schädigt es die Gesundheit anders? Das ist wenig klar, die meisten Befunde liegen aus Experimenten mit Wasserbewohnern vor: Zooplankton etwa wuchs und reproduzierte sich langsamer – in manchen Experimenten, nicht in allen –, Penelope Lindeque (Plymouth) hat es zusammengefasst und vermutet, dass die schiere Masse des Unverdaulichen die des Nahrhaften im Magen minimiert. Denn irgendwelche Wirkungen von Giften fanden sich nicht (Environmental Pollution 245, S. 98).
Die fürchtet man auch weniger vom Grundstoff – meist Erdöl – und mehr von Beimischungen wie Pigmenten oder Weichmachern. Oder davon, dass Gifte sich an Mikroplastik anlagern. Sorgte so etwas dafür, dass in einem der raren Tests mit Säugetieren bei Mäusen Entzündungen im Dünndarm auftraten (Chemosphere 244, 125492), in anderen die Zahlen der Spermien bzw. die der Nachkommen geringer waren (Journal of Hazardous Materials 401, 123430); Hazard Toxicology Letters 324, S. 75)? Das ist schwer auszumachen, da die Konzentrationen von Mikroplastik in den Tests oft weit höher waren als in der Natur.
Und Unwägbarkeiten kommen nicht nur von der Quantität. Sondern auch davon, dass es Plastik in vielen Fraktionen und Formen gibt, in Labortests aber aus pragmatischen Gründen meist mit Kügelchen aus Polystyrol gearbeitet wird. Schon bei Fasern haben sich andere Effekte gezeigt, deshalb arbeitet Koelmans an realitätsnäheren Mischungen. Und dann muss man noch wissen, wie viel aufgenommenes Mikroplastik wieder ausgeschieden und wie viel wo eingelagert wird. Einige Partikel haben sich in Plazentas gefunden, aber das kann auch Laborkontamination gewesen sein (Environment International 146, 106274).
Noch undurchschaubarer wird alles in dem Bereich, der theoretisch der gefährlichste ist, weil die Partikel so klein sind – unter einem Mikrometer: Nanoplastik –, dass sie in Zellen eindringen können. Der böse Präzedenzfall heißt Asbest, diese Gesteinsfasern können zu Mesotheliomen führen, tödlichen Tumoren des Bauchfells. Das machte auch Sorgen bei den unzähligen Nanomaterialien, die in den letzten Jahrzehnten für die unterschiedlichsten Zwecke in Umlauf gebracht wurden, allerdings ist von Schäden bisher nichts bekannt geworden. Und auch im ersten Experiment mit Nanoplastik, in dem Roman Lehner von der Schweizer Sail and Explore Association Partikel mit Fluoreszenz ausstattete und sie in Gewebekultur von Darmzellen platzierte, zeigte sich zwar das Leuchten in den Zellen, aber keine besorgniserregende Wirkung (Environmental Science Nano 8, S. 502).
Unklar ist, wie viele Partikel im Körper bleiben und was sie dort anrichten.
Kann man also entwarnen? „Wenn Sie mich nach Risken fragen, bin ich für heute nicht so besorgt, aber für die Zukunft schon ein wenig, wenn wir nichts tun.“Das erklärt Koelmans gegenüber Nature (593, S. 22), und die meisten seiner Kollegen sehen es so: Derzeit sind die Konzentrationen in der Umwelt noch nicht bedrohlich, aber sie werden steigen, selbst wenn man die Produktion von Plastik – 400 Millionen Tonen im Jahr – einstellen würde: Plastik wird chemisch kaum zersetzt, aber physikalisch immer weiter zerkleinert.
Und Vorsicht kann nicht schaden: Li schiebt sein Essen nun in anderen Behältern in die Mikrowelle und rät besorgten Eltern, Babynahrung in Glasgefäßen zu erhitzen – bei dem Vorgang werden die Partikel frei –, zum Füttern kann sie dann immer noch in Plastikflaschen umgeschüttet werden.