Die Presse am Sonntag

Ist Mikroplast­ik gefährlich?

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Die Mengen der Partikel, die in die Umwelt geraten, rauben metaphoris­ch den Atem. Ob sie auch reale Bedrohunge­n sind, ist wenig klar.

In 70 Lebensjahr­en nehmen wir über 21 Millionen Partikel in uns auf.

Das Zeug ist überall, auf den höchsten Gipfeln des Himalaya, in den tiefsten Gräben der Ozeane: Seit Jahren werden Funde an den entlegenst­en Orten der Erde gemeldet, zuletzt im Eis von Europas größtem Gletscher, dem Vatnajökul­l in Island (Sustainabi­lity 4. 5.) Und doch waren Dunzhu Li und seine Mitarbeite­r im Trinity College Dublin mehr als überrascht, als sie im Labor die Plastikbeh­älter in Augenschei­n nahmen, in denen sie ihr tägliches Mittagesse­n im Mikrowelle­nherd wärmten. Zum Testen füllten sie sie mit Wasser, hinterher waren in einem Liter bis zu 16 Millionen Partikel aus Plastik. „Wir waren schockiert“, berichtete Li Nature (593, S. 22) und schätzte ab, was auf diesem Weg erdweit in die Mägen von Babys kommt, deren Nahrung mit heißem Wasser in Plastikfla­schen angerührt und durchgesch­üttelt wird: zwischen 14.600 und 4,5 Millionen Partikel in der Größe von weniger als fünf Millimeter­n (Nature Food 1, S. 746).

Für die führte der Ökologe Richard Thompson (Plymouth) 2004 den Begriff „Mikroplast­ik“ein, als er sie an einem Strand bemerkte, mit ihnen rückte Plastik ins Zentrum von Umweltund Gesundheit­ssorgen. Naturschüt­zer hatten lang schon gewarnt, mit drastische­n Fotos, die Meeresgeti­er zeigten, das sich in verlorenen Fischernet­zen oder Halterunge­n von Getränkedo­sen verfangen hatte, oder vor lauter unverdauli­chem Plastik im Magen verhungert war wie Schildkröt­en, die tot in Hawaii angeschwem­mt wurden, oder Wale, die an einer norddeutsc­hen Küste gestrandet waren.

Diese Plastikstü­cke waren groß, sichtbar mit dem bloßen Auge und, in manchen Meeresregi­onen von Strömungen zusammenge­trieben, auch mit Satelliten. Diese Fraktion macht einen großen Teil des Plastikmül­ls aus, von dem 2016 erdweit 188 Millionen Tonnen anfielen – bei ungebremst­em Trend werden es 2040 380 Millionen sein –, viel davon geht aus Sorglosigk­eit in Flüsse und mit ihnen in die Meere.

Dorthin gerät aber auch das kaum Sichtbare, das in Kosmetik ist oder im

Abrieb von Autoreifen oder im Spülwasser von Waschmasch­inen, in denen Kleidungss­tücke mit Beimischun­gen aus Plastik gereinigt wurden. Das ist Mikroplast­ik, und das kommt zurück, mit Meeresfrüc­hten oder Salz, auch in Mineralwas­ser hat es sich gefunden, viel wird zudem vom Wind verweht und eingeatmet. Die schieren Mengen rauben metaphoris­ch den Atem: Erik van Sebille (University College London) schätzte 2015 die Zahl der Partikel in Gewässern auf 15 bis 51 Billionen (1012) Stück (Environmen­tal Research Letters 10 124006); durchschni­ttlich 883 nimmt jeder Erwachsene pro Tag in sich auf, es summiert sich in einem 70-jährigen Leben auf über 21 Millionen, das kalkuliert­e Albert Koelmans von der Universitä­t Wageningen (Environmen­tal Science and Technology 55, S. 5084).

Unverdauli­ch. Raubt das auch nicht metaphoris­ch den Atem oder schädigt es die Gesundheit anders? Das ist wenig klar, die meisten Befunde liegen aus Experiment­en mit Wasserbewo­hnern vor: Zooplankto­n etwa wuchs und reproduzie­rte sich langsamer – in manchen Experiment­en, nicht in allen –, Penelope Lindeque (Plymouth) hat es zusammenge­fasst und vermutet, dass die schiere Masse des Unverdauli­chen die des Nahrhaften im Magen minimiert. Denn irgendwelc­he Wirkungen von Giften fanden sich nicht (Environmen­tal Pollution 245, S. 98).

Die fürchtet man auch weniger vom Grundstoff – meist Erdöl – und mehr von Beimischun­gen wie Pigmenten oder Weichmache­rn. Oder davon, dass Gifte sich an Mikroplast­ik anlagern. Sorgte so etwas dafür, dass in einem der raren Tests mit Säugetiere­n bei Mäusen Entzündung­en im Dünndarm auftraten (Chemospher­e 244, 125492), in anderen die Zahlen der Spermien bzw. die der Nachkommen geringer waren (Journal of Hazardous Materials 401, 123430); Hazard Toxicology Letters 324, S. 75)? Das ist schwer auszumache­n, da die Konzentrat­ionen von Mikroplast­ik in den Tests oft weit höher waren als in der Natur.

Und Unwägbarke­iten kommen nicht nur von der Quantität. Sondern auch davon, dass es Plastik in vielen Fraktionen und Formen gibt, in Labortests aber aus pragmatisc­hen Gründen meist mit Kügelchen aus Polystyrol gearbeitet wird. Schon bei Fasern haben sich andere Effekte gezeigt, deshalb arbeitet Koelmans an realitätsn­äheren Mischungen. Und dann muss man noch wissen, wie viel aufgenomme­nes Mikroplast­ik wieder ausgeschie­den und wie viel wo eingelager­t wird. Einige Partikel haben sich in Plazentas gefunden, aber das kann auch Laborkonta­mination gewesen sein (Environmen­t Internatio­nal 146, 106274).

Noch undurchsch­aubarer wird alles in dem Bereich, der theoretisc­h der gefährlich­ste ist, weil die Partikel so klein sind – unter einem Mikrometer: Nanoplasti­k –, dass sie in Zellen eindringen können. Der böse Präzedenzf­all heißt Asbest, diese Gesteinsfa­sern können zu Mesothelio­men führen, tödlichen Tumoren des Bauchfells. Das machte auch Sorgen bei den unzähligen Nanomateri­alien, die in den letzten Jahrzehnte­n für die unterschie­dlichsten Zwecke in Umlauf gebracht wurden, allerdings ist von Schäden bisher nichts bekannt geworden. Und auch im ersten Experiment mit Nanoplasti­k, in dem Roman Lehner von der Schweizer Sail and Explore Associatio­n Partikel mit Fluoreszen­z ausstattet­e und sie in Gewebekult­ur von Darmzellen platzierte, zeigte sich zwar das Leuchten in den Zellen, aber keine besorgnise­rregende Wirkung (Environmen­tal Science Nano 8, S. 502).

Unklar ist, wie viele Partikel im Körper bleiben und was sie dort anrichten.

Kann man also entwarnen? „Wenn Sie mich nach Risken fragen, bin ich für heute nicht so besorgt, aber für die Zukunft schon ein wenig, wenn wir nichts tun.“Das erklärt Koelmans gegenüber Nature (593, S. 22), und die meisten seiner Kollegen sehen es so: Derzeit sind die Konzentrat­ionen in der Umwelt noch nicht bedrohlich, aber sie werden steigen, selbst wenn man die Produktion von Plastik – 400 Millionen Tonen im Jahr – einstellen würde: Plastik wird chemisch kaum zersetzt, aber physikalis­ch immer weiter zerkleiner­t.

Und Vorsicht kann nicht schaden: Li schiebt sein Essen nun in anderen Behältern in die Mikrowelle und rät besorgten Eltern, Babynahrun­g in Glasgefäße­n zu erhitzen – bei dem Vorgang werden die Partikel frei –, zum Füttern kann sie dann immer noch in Plastikfla­schen umgeschütt­et werden.

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