Fußball darf Spaß machen, auch, wenn man gebissen wird
Warum ausgerechnet der alte Abwehrrecke Giorgio Chiellini der richtige Mann ist, um die neue Squadra Azzurra zum Titel zu führen.
Der Härteste unter den Harten, das war in etwa der Ruf des Giorgio Chiellini, Spitzname „Gorilla“, „Senator“oder „Professor Grätsche“. Seit rund 20 Jahren verhindert der Mann aus Livorno mit allen Mitteln Gegentore, teilt aus, steckt ein und findet im Nachhinein auch wenig Verwerfliches daran, dass er dafür von Luis Sua´rez einmal gebissen wurde – eines der skurrilsten Kapitel der WM-Geschichte.
Was man über den mittlerweile 36-jährigen Chiellini sonst noch wusste: Er hat perfekte Manieren und gepflegtes Auftreten außerhalb des Platzes, schließlich stammt er aus einer gut situierten toskanischen Familie; er ist Familienmensch (zwei Töchter), Ritter der italienischen Republik, Unterstützer von Common Goal, jener Initiative, bei der Fußballprofis Teile ihres Gehalts spenden, Buchautor („Io, Giorgio“) und erwarb beachtliche akademische Würden für einen Profifußballer (Wirtschaftswissenschaftler cum laude). Ein Beispiel, das in Italiens Nationalteam gerade Schule macht, siehe Matteo Pessina (Wirtschaftsstudium), Federico Chiesa, Giacomo Raspadori, Alex Meret (angehende Sportwissenschaftler).
Seit dieser EM aber wissen wir noch mehr: Chiellini hat Humor. Niemand hat sich stärker anstecken lassen vom Spaßfußball der Squadra Azzurra, von dieser neuen taktischen Entdeckung der Italiener, die sie nun vier Wochen lang zelebriert haben, von der Eröffnungspartie zuhause in Rom bis ins Finale gegen England in Wembley (21 Uhr, live ORF eins, ZDF). Und deshalb ist ausgerechnet der alte AbwehrHaudegen Chiellini, der zuletzt alle Tiefs des italienischen Fußballs miterlebt hat, der perfekte Kapitän und Anführer für diese neue spektakuläre Mannschaft von Roberto Mancini.
Keine Szene von Chiellini steht sinnbildlicher dafür als jene mit Jordi Alba. Der Italiener drückte und herzte Spaniens Kapitän beim Münzwurf, ein beflügelter Auftritt, der selbst das Schiedsrichterteam auflachen ließ – und in den viel hineininterpretiert wurde. Die mentale Stärke der Italiener etwa, ihr Selbstvertrauen und wie ihre Lockerheit zum Erfolgsrezept wurde. Schließlich stand Chiellini wenige Augenblicke vor dem alles entscheidenden Elfmeterschießen im Halbfinale einer Europameisterschaft.
Weniger Beachtung freilich fand eine weitere Umarmung Chiellinis ein paar Minuten später, die aber mindestens ebenso viel über ihn aussagt. Als die euphorisierten Italiener zu ihrem Elfmeterhelden Jorginho stürmten, blieb der Capitano stehen und umarmte erst Manuel Locatelli, jenen Mann also, der den ersten Penalty der Italiener verschossen hatte und beinahe zum Sündenbock des Abends geworden wäre. Ebenfalls freudig lachend geherzt vom Juventus-Profi wurde Belgiens Axel Witsel, nachdem beide vom Schiedsrichter wegen der üblichen Eckballrangeleien ermahnt worden waren. Chiellini umarmt sich also durchs Turnier und verzichtet bisher gänzlich auf Härteeinlagen.
Gelbe Karte hat er noch keine gesehen, insgesamt hat er nur zwei Fouls begangen. Nebenbei aber 28 Bälle erobert, 16 Mal erfolgreich geklärt und ein Abseitstor erzielt. Belgiens Starstürmer Romelu Lukaku hat Chiellini praktisch aus dem Spiel genommen, später hat er sich 120 Minuten lang gegen teils übermächtige Spanier gestellt.
Am Tiefpunkt des italienischen Calcio, nach dem Verpassen der WM 2018, hatte selbst Chiellini nicht mehr an sich und eine Renaissance der Squadra geglaubt. Über den Neustart mit Mancini erzählte er nun: „Paradoxerweise haben auch wir ihn anfangs für verrückt gehalten, als er uns gesagt hat, dass wir uns in den Kopf setzen sollen, die EM zu gewinnen.“
Chiellini vs. Kane. Dass Chiellini in diesem Sommer das Turnier seines Lebens spielt, war nicht ausgemacht. Es gab Stimmen, die meinten, die Juve-Altstars Leonardo Bonucci und Chiellini würden nicht mehr in dieses Team passen. Zumal mit dem 22-jährigen Alessandro Bastoni von Meister Inter Mailand der nächste Star der italienischen Verteidigerschule bereitsteht, um in die Fußstapfen von Baresi, Maldini, Cannavaro und Co. zu treten. Erst als die EM nahte, hat sich Mancini doch wieder für Chiellini entschieden.
Ohne Schwächen ist der Abwehrchef nicht. Den Spielaufbau überlässt er lieber Nebenmann Bonucci. Heute im Finale wartet mit Harry Kane ein Gegenspieler, der ihm körperlich ebenbürtig ist, und mit Raheem Sterling ein weiterer, der ihn im Antritt alt aussehen lässt. Dennoch gilt, was Jose´ Mourinho, selbst ausgewiesener Defensiv-Experte, einmal gesagt hat: „Mr. Bonucci und Mr. Chiellini könnten an der Harvard Universität einige Lektionen unterrichten, wie ein zentraler Verteidiger spielen muss. Absolut fantastisch.“
Witsel, Jordi Alba und ganz Italien: Giorgio Chiellini umarmt sich durchs Turnier.
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