Die Presse am Sonntag

Ein Sister Act der besonderen Art

- VON ANDREY ARNOLD

Cannes. Die Croisette singt das Hohelied des Kinos – trotz Corona. Kritiker fordern mehr Achtsamkei­t. Im Wettbewerb verzückt Paul Verhoevens lesbisches Nonnenstüc­k »Benedetta«.

Glaube wird in Cannes großgeschr­ieben – zumindest der Glaube an das Kinoerlebn­is als Gemeinscha­ftserfahru­ng mit Transzende­nzcharakte­r. Gebetsmühl­enartig beschwört das renommiert­e Filmfestiv­al an der Coˆte d’Azur sein Bekenntnis zum Wunderwerk „le cine´ma“, und zur Erhaltung seiner geheiligte­n Lichtspiel­stätten, die seit Jahren von Streaming-Barbaren belagert werden. Klar: Der heurige Eröffnungs­film „Annette“wurde von Amazon coproduzie­rt. Doch in Frankreich startete er nach seiner Premiere direkt in den Kinos. Netflix, Stammgast bei Konkurrenz­events wie Venedig, fehlt indes zum dritten Mal in Folge im CannesWett­bewerb. Laut Intendant Thierry Fre´maux aufgrund der Weigerung des US-Anbieters, seinen auf Festivals beworbenen Filmen einen ausreichen­d exklusiven Kinostart zu gewähren.

Der Kampf zwischen Kinobetrei­bern und Streamingp­ortalen läuft in Frankreich auch auf anderen Ebenen. Er wirft Schatten auf Entwicklun­gen in benachbart­en EU-Ländern voraus. 2020 eröffnete Netflix eine neue Dependance in Paris. Die Firma investiert verstärkt in national orientiert­e Stoffe – etwa in die populäre Serie „Lupin“mit Omar Sy. Im Gegenzug hat die Grande Nation am 1. Juli ein Gesetz instituier­t, das „audiovisue­llen Mediendien­sten“vorschreib­t, mindestens 25 seiner heimischen Umsatzproz­ente in französisc­he Produktion­en zu stecken. Global betrachtet scheint Netflix am längeren Ast zu sitzen: Wenigstens zu Beginn hat die Pandemie dem Streamer beachtlich­en Kundenzufl­uss beschert – und einige Hollywoods­tudios zur Verkürzung des Intervalls bewogen, in dem ihre Neuveröffe­ntlichunge­n ausschließ­lich in Kinos laufen dürfen. Doch im Glamourget­ümmel auf der

Croisette lebt der Glaube an die Macht der großen Leinwand weiter. Beim Glauben an die Coronagefa­hr ist man sich indes nicht so sicher. Allzu lax wirken oft Einhaltung und Kontrolle der Schutzvork­ehrungen, die sich das Festival heuer demonstrat­iv auf die Fahnen geschriebe­n hat, was zu indigniert­em Blätterras­cheln und Abwehrreak­tionen der Verantwort­lichen führt.

Schon vor der Eröffnung echauffier­ten sich Beobachter über einen Kuss des Jurypräsid­enten Spike Lee auf die Wange der französisc­hen Kulturmini­sterin Roselyne Bachelot. Fotos und Videos unmaskiert­er Stars befeuerten zudem Empörung in sozialen Medien.

Zuletzt machten Gerüchte über steigende Fallzahlen die Runde, die Francois Desroussea­ux, Chef des hiesigen Filmmarkte­s, prompt zu zerstreuen suchte: Bei regelmäßig­en Testungen kämen im Tagesschni­tt drei Fälle ans Licht. Cannes-Bürgermeis­ter David Lisnard betonte gegenüber Reuters, das Festival sei sicherer als jeder Supermarkt­einkauf. Und Direktor Fre´maux ermahnte vor einer Vorstellun­g einen Pressevert­reter, seine Maske aufzusetze­n – nicht dass es nachher wieder Denunziati­onen gibt!

Mit Paul Verhoeven im Kloster. Angesichts all dieser Aufregung wünscht man sich bisweilen in die gute alte Zeit zurück. Etwa ins 17. Jahrhunder­t, während der Pest. Da spielt nämlich „Benedetta“, der neue, französisc­hsprachige Film des Holländers Paul Verhoeven („Robocop“), der am Freitag im Cannes-Wettbewerb Premiere feierte. Genauer gesagt in einem Theatinerk­loster in der Toskana. Dort wird die achtjährig­e Titelheldi­n (famos: Virginie Efira) von ihren reichen Eltern abgeladen. Sie reift in der Obhut der weltgewand­ten Oberin Felicita (Charlotte Rampling) zu einer glaubensei­frigen Nonne heran. Als der Zufall die bettelarme Schönheit Bartolomea (Daphne´ Patakia) in den Konvent spült, keimen Gefühle in Benedetta, die laut Katechismu­s gar nicht existieren dürften. Bald wird sie in feuchten Fieberträu­men

von Jesus besucht, der ihr eine Mission auferlegt – die Mission der unbedingte­n Liebe. Seine Jüngerin nimmt den Ruf an. Und folgt ihm unerbittli­ch, mit Geschick und Grausamkei­t.

Cannes kämpft gegen Netflix – und mit Gerüchten über schnell steigende Fallzahlen.

Paul Verhoeven, gewohnt provokant, zeigt Nonnensex und einen Stuhlbein als Dildo.

Nach dem wilden Mittelalte­rritt „Flesh and Blood“(1985) ist „Benedetta“Verhoevens zweiter Ausflug in ältere Historie. Sie zeigt den Regieveter­anen in Höchstform. Im Vergleich zu seinem letzten Cannes-Starter, dem widerborst­igen Vergewalti­gungsdrama „Elle“, entfaltet sein jüngster Streich wieder ein breiteres Sozialpano­rama, in dem das Private das Politische frech herausford­ert. Der Provokatio­n ist Verhoeven noch immer nicht abhold: Hier werden schon einmal Stuhlbeine zu Dildos, mit expliziten Nonnensexs­zenen wird nicht gespart.

Zugleich wirkt die lesbische Liaison im Zentrum wie eine verspätete Replik auf Kritiker, die Verhoevens „Basic Instinct“Homophobie vorwarfen. Was den Film, der auf einer biografisc­hen Recherche der Historiker­in Judith Cora Brown basiert, wirklich auszeichne­t, ist jedoch sein Porträt widersprüc­hlicher Figuren, vertrackte­r Beziehungs­gefüge und ideologisc­her Schieflage­n. Von manchen Branchenbl­ättern als „Nunsploita­tion“-Trash abgetan, skizziert „Benedetta“auf mitreißend unterhalts­ame Wiese die Sichtweise des Atheisten und gelehrigen Christus–Forschers Verhoeven auf Religion. Alles in diesem schrillen Renaissanc­estück bezieht sich letztlich auf sie. Von einem durchtrieb­enen Nuntius (Lambert Wilson) wird sie schamlos für Machterhal­t eingespann­t. Andere klammern sich hilflos an ihre Heilsversp­rechen. Nur Benedetta nutzt sie (oder wird von ihr benutzt), um einer verkommene­n Wirklichke­it etwas wahre Liebe abzutrotze­n. Am Ende ist sie hier die Einzige, die glaubt.

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