Ein Sister Act der besonderen Art
Cannes. Die Croisette singt das Hohelied des Kinos – trotz Corona. Kritiker fordern mehr Achtsamkeit. Im Wettbewerb verzückt Paul Verhoevens lesbisches Nonnenstück »Benedetta«.
Glaube wird in Cannes großgeschrieben – zumindest der Glaube an das Kinoerlebnis als Gemeinschaftserfahrung mit Transzendenzcharakter. Gebetsmühlenartig beschwört das renommierte Filmfestival an der Coˆte d’Azur sein Bekenntnis zum Wunderwerk „le cine´ma“, und zur Erhaltung seiner geheiligten Lichtspielstätten, die seit Jahren von Streaming-Barbaren belagert werden. Klar: Der heurige Eröffnungsfilm „Annette“wurde von Amazon coproduziert. Doch in Frankreich startete er nach seiner Premiere direkt in den Kinos. Netflix, Stammgast bei Konkurrenzevents wie Venedig, fehlt indes zum dritten Mal in Folge im CannesWettbewerb. Laut Intendant Thierry Fre´maux aufgrund der Weigerung des US-Anbieters, seinen auf Festivals beworbenen Filmen einen ausreichend exklusiven Kinostart zu gewähren.
Der Kampf zwischen Kinobetreibern und Streamingportalen läuft in Frankreich auch auf anderen Ebenen. Er wirft Schatten auf Entwicklungen in benachbarten EU-Ländern voraus. 2020 eröffnete Netflix eine neue Dependance in Paris. Die Firma investiert verstärkt in national orientierte Stoffe – etwa in die populäre Serie „Lupin“mit Omar Sy. Im Gegenzug hat die Grande Nation am 1. Juli ein Gesetz instituiert, das „audiovisuellen Mediendiensten“vorschreibt, mindestens 25 seiner heimischen Umsatzprozente in französische Produktionen zu stecken. Global betrachtet scheint Netflix am längeren Ast zu sitzen: Wenigstens zu Beginn hat die Pandemie dem Streamer beachtlichen Kundenzufluss beschert – und einige Hollywoodstudios zur Verkürzung des Intervalls bewogen, in dem ihre Neuveröffentlichungen ausschließlich in Kinos laufen dürfen. Doch im Glamourgetümmel auf der
Croisette lebt der Glaube an die Macht der großen Leinwand weiter. Beim Glauben an die Coronagefahr ist man sich indes nicht so sicher. Allzu lax wirken oft Einhaltung und Kontrolle der Schutzvorkehrungen, die sich das Festival heuer demonstrativ auf die Fahnen geschrieben hat, was zu indigniertem Blätterrascheln und Abwehrreaktionen der Verantwortlichen führt.
Schon vor der Eröffnung echauffierten sich Beobachter über einen Kuss des Jurypräsidenten Spike Lee auf die Wange der französischen Kulturministerin Roselyne Bachelot. Fotos und Videos unmaskierter Stars befeuerten zudem Empörung in sozialen Medien.
Zuletzt machten Gerüchte über steigende Fallzahlen die Runde, die Francois Desrousseaux, Chef des hiesigen Filmmarktes, prompt zu zerstreuen suchte: Bei regelmäßigen Testungen kämen im Tagesschnitt drei Fälle ans Licht. Cannes-Bürgermeister David Lisnard betonte gegenüber Reuters, das Festival sei sicherer als jeder Supermarkteinkauf. Und Direktor Fre´maux ermahnte vor einer Vorstellung einen Pressevertreter, seine Maske aufzusetzen – nicht dass es nachher wieder Denunziationen gibt!
Mit Paul Verhoeven im Kloster. Angesichts all dieser Aufregung wünscht man sich bisweilen in die gute alte Zeit zurück. Etwa ins 17. Jahrhundert, während der Pest. Da spielt nämlich „Benedetta“, der neue, französischsprachige Film des Holländers Paul Verhoeven („Robocop“), der am Freitag im Cannes-Wettbewerb Premiere feierte. Genauer gesagt in einem Theatinerkloster in der Toskana. Dort wird die achtjährige Titelheldin (famos: Virginie Efira) von ihren reichen Eltern abgeladen. Sie reift in der Obhut der weltgewandten Oberin Felicita (Charlotte Rampling) zu einer glaubenseifrigen Nonne heran. Als der Zufall die bettelarme Schönheit Bartolomea (Daphne´ Patakia) in den Konvent spült, keimen Gefühle in Benedetta, die laut Katechismus gar nicht existieren dürften. Bald wird sie in feuchten Fieberträumen
von Jesus besucht, der ihr eine Mission auferlegt – die Mission der unbedingten Liebe. Seine Jüngerin nimmt den Ruf an. Und folgt ihm unerbittlich, mit Geschick und Grausamkeit.
Cannes kämpft gegen Netflix – und mit Gerüchten über schnell steigende Fallzahlen.
Paul Verhoeven, gewohnt provokant, zeigt Nonnensex und einen Stuhlbein als Dildo.
Nach dem wilden Mittelalterritt „Flesh and Blood“(1985) ist „Benedetta“Verhoevens zweiter Ausflug in ältere Historie. Sie zeigt den Regieveteranen in Höchstform. Im Vergleich zu seinem letzten Cannes-Starter, dem widerborstigen Vergewaltigungsdrama „Elle“, entfaltet sein jüngster Streich wieder ein breiteres Sozialpanorama, in dem das Private das Politische frech herausfordert. Der Provokation ist Verhoeven noch immer nicht abhold: Hier werden schon einmal Stuhlbeine zu Dildos, mit expliziten Nonnensexszenen wird nicht gespart.
Zugleich wirkt die lesbische Liaison im Zentrum wie eine verspätete Replik auf Kritiker, die Verhoevens „Basic Instinct“Homophobie vorwarfen. Was den Film, der auf einer biografischen Recherche der Historikerin Judith Cora Brown basiert, wirklich auszeichnet, ist jedoch sein Porträt widersprüchlicher Figuren, vertrackter Beziehungsgefüge und ideologischer Schieflagen. Von manchen Branchenblättern als „Nunsploitation“-Trash abgetan, skizziert „Benedetta“auf mitreißend unterhaltsame Wiese die Sichtweise des Atheisten und gelehrigen Christus–Forschers Verhoeven auf Religion. Alles in diesem schrillen Renaissancestück bezieht sich letztlich auf sie. Von einem durchtriebenen Nuntius (Lambert Wilson) wird sie schamlos für Machterhalt eingespannt. Andere klammern sich hilflos an ihre Heilsversprechen. Nur Benedetta nutzt sie (oder wird von ihr benutzt), um einer verkommenen Wirklichkeit etwas wahre Liebe abzutrotzen. Am Ende ist sie hier die Einzige, die glaubt.