Die Presse am Sonntag

Die leicht hinkende Geliebte

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Zeigen Sie mir die attraktive hinkende Frau in der Literatur! Das englischsp­rachige Online-Magazin „The Pudding“hat sich einmal 2000 Bücher vorgeknöpf­t und eine Statistik über die körperlich­en Eigenschaf­ten erstellt, mit der in der Literatur typischerw­eise Männer und Frauen beschriebe­n werden. Da haben wir’s, schwarz auf weiß: Hinken war immer Männersach­e. In der Regel sind diese Männer im Kampf, im Krieg verwundet worden. Oft deutet die äußere Wunde auf eine innere. Der starke Mann, der dennoch zerbrechli­ch, bedürftig ist – für junge Romantiker­innen ist das unwiderste­hlich. Aber eine Frau mit leichtem Gehfehler, die zum Gipfel männlicher Sehnsucht wird? Seit dem Frühjahr gibt es sie im Doppelpack. In Steffen Kopetzkys Roman „Monschau“verliebt sich ein Arzt, der 1962 in der Eifel einen Pocken-Ausbruch bekämpft (mit deutlichem Covid-Bezug), in eine künftige Firmenerbi­n. Ihre Gehweise zeigt noch leichte Spuren einer schweren Polio-Erkrankung als Kind, die sie in den Rollstuhl brachte. Und in „Seeland, Schneeland“von Mirko Bonne´ verzehrt sich ein junger Mann nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Spanische-GrippePand­emie nach der Liebe seines Lebens Ennid Muldoon, die stattdesse­n ihrem im Krieg gefallenen Verlobten nachtrauer­t. Die hinkende Vera und die hinkende Ennid ähneln sich: Beide sind sie für ihre Zeit äußerst selbststän­dig und emanzipier­t, bewegen sich allein durch die Welt. Zugleich tragen beide eine innere Verletzung mit sich herum. Warum diese Parallele? Doch nicht, weil beide Autoren in Oberbayern geboren sind? Vielleicht erlaubt dieses leichte Hinken den männlichen Protagonis­ten ja, ein wenig von der verlorenen Rolle des Beschützer­s zurückzuge­winnen – Beschützer in der Pandemie, Beschützer der Weiblichke­it. Vielleicht müssen, wie früher die starken Männer, nun die starken Frauen ein wenig hinken, damit sie nahbar werden. Und übrigens erzählen beide Romane von einer romantisch­en „großen Liebe“, die aus der Hochlitera­tur fast verschwund­en ist. Das mag „retro“wirken, ist heute aber fast schon wieder mutig. Zwei Lektüre-Empfehlung­en also. Für das rundum gelungene, kurze „Monschau“sowieso. Und mit Einschränk­ung für den Wälzer „Seeland, Schneeland“: trotz zunehmende­r Schwächen lohnenswer­t für Urlauber mit viel Zeit.

Auf sich allein gestellte Kinder im Dorf, im Wald: Zeugen solche Geschichte­n auch von einer Generation­enEntfremd­ung?

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