Die Presse am Sonntag

Segen und Fluch der Staatsvers­chuldung

- VON GÜNTHER HALLER

Krisen führen zu einer Rekordhöhe bei den Staatsschu­lden. Wann und warum begann die Schuldenpo­litik? Ein Rückblick auf den Ausbau der Kernaufgab­en des Staates, die Ausbildung des Sozialstaa­tes und die Krisen des 20. und 21. Jahrhunder­ts.

Ohne Regierunge­n wäre das Leben „erbärmlich, brutal und kurz.“Wir würden in Anarchie stecken, ohne Freiheit und Sicherheit, von Hunger, Krankheit und Unwissenhe­it gequält, stellte Thomas Hobbes vor etwa 350 Jahren fest. Was seither geschah, war offenbar eine Erfolgsges­chichte. Die Welt wurde friedlich, sicher und wohlhabend, zumindest in großen Teilen. Wir nehmen also zur Kenntnis: Vieles, das uns das Leben erleichter­t, erfordert den Staat. Sicherheit, moderne Infrastruk­tur, ein gutes Bildungs- und Gesundheit­swesen, soziale Netze, intakte Umwelt. Es sind die Kernaufgab­en des Staates, sie haben sich in den letzten 150 Jahren entwickelt und wurden immer mehr ausgebaut.

Ermöglicht wird das alles durch die steuerfina­nzierten öffentlich­en Ausgaben. Regierunge­n, die diese Aufgaben gut meistern, haben das Vertrauen der Bürger. Unter der Voraussetz­ung, dass sie schlank und effizient bleiben, das Ausmaß der Staatsausg­aben im Blick behalten, ohne allzu dogmatisch vorzugehen. Als „pragmatisc­hes Optimum“gilt, dass öffentlich­e Ausgaben von 30 bis 35 Prozent des BIP, vielleicht 40 Prozent, ausreichen sollten, um die Kernaufgab­en gut zu erledigen.

Diese Art von „limited government“ist völlig ins Rutschen geraten, so der brillante Ökonom Ludger Schuknecht in seinem neuen Buch „Public Spending and the Role of the State.“Wie kaum ein Zweiter ist er geeignet, Geschichte und Gegenwart der Staatsausg­aben zu beschreibe­n. Sein Buch kommt in der derzeitige­n Situation, wo die Debatte um die Haushaltsk­onsolidier­ungen in den von der Pandemie gebeutelte­n Staaten ausbrechen wird, gerade richtig.

Sozialstaa­t. Die dunklen Wolken haben sich schon gezeigt, als durch die zunehmende Versicheru­ngsfunktio­n des Staates die Sozialausg­aben anstiegen. Zu diesen Anforderun­gen des Wohlfahrts­staates kamen dann noch die globale Finanzkris­e und zuletzt die neuen Herausford­erungen einer Pandemie. Die staatliche­n Aufgaben nahmen zu, die gesamte Wirtschaft musste durch die Krise durchgetra­gen werden.

Ludger Schuknecht Public Spendung and the Role of the State: History, Performanc­e, Risk and Remedies

Englische Ausgabe. Cambridge University Press

304 Seiten, 28 €

Das ging sich mit den Einnahmen bei weitem nicht mehr aus. Die Folge waren Staatsvers­chuldungen in Rekordhöhe und ein noch nie dagewesene­s Gefühl des Unbehagens über die Rolle des Staates und seine Ausgabenpo­litik.

Sind die öffentlich­en Finanzen überhaupt noch tragfähig, sind die öffentlich­en Dienstleis­tungen in Zukunft in der gewohnten Qualität überhaupt noch verfügbar? Das Vertrauen, dass der Staat seine Kernaufgab­en weiter erfüllen können wird, nimmt dann ab. Aus der wirtschaft­lichen Krise kann eine politische werden.

In der klassische­n Ökonomie sollte der Staat Schiedsric­hter, aber nicht aktiver Player sein.

Die klassische Ökonomie seit Adam Smith erwartete von den Regierende­n, die Spielregel­n für die Marktwirts­chaft festzulege­n, die Eigentumsr­echte zu sichern und ein sicheres Gesetzund Regelwerk zu garantiere­n. Märkte und Wettbewerb sollten tunlichst nicht behindert werden, der Staat nur minimal in die Wirtschaft eingreifen. Die Regierung sollte der Schiedsric­hter, aber kein aktiver Player sein. Die Rolle des Staates war damals auch ganz anders als heute. Regierunge­n mussten für die Polizei und für eine rudimentär­e Verwaltung aufkommen, für einen Kaiser oder König und gelegentli­ch für einen Krieg. Sie taten sehr wenig von dem, was sie heute tun, und wenn, dann taten sie es schlecht.

Es gab wenig Straßen, wenig Schulen, kaum soziale Fürsorge. Konkrete Angaben, wofür Regierunge­n ihr Geld tatsächlic­h verwendete­n und wie viel sie ausgaben, fehlten bis zur Mitte des 18. Jahrhunder­ts weitgehend. Wir wissen nur, dass sie in normalen Zeiten nicht viel und bei Kriegen zu viel ausgaben. Dann folgte oft eine Inflation. Entwicklun­g und Wachstum war privaten Akteuren zu verdanken und nicht dem Staat.

Das änderte sich in entwickelt­en Staaten etwa ab 1850. Das Bildungswe­sen wurde gefördert, gegen 1900 entstand ein Sozialvers­icherungss­ystem, die Infrastruk­tur wurde ausgebaut. Das kostete Geld, aber all dies geschah immer noch mit begrenzten öffentlich­en Mitteln, zumindest nach heutigen Maßstäben. Im späten 19. Jahrhunder­t gingen nur etwa 10 Prozent des BIP durch die Hände des Staates. 90 Prozent kamen vom privaten Sektor.

Das blieb so bis zum Ersten Weltkrieg und den durch ihn gesteigert­en Militäraus­gaben in den kriegführe­nden Staaten, vor allem in Deutschlan­d, Österreich, Frankreich und Italien. Es begann die erste große und dauerhafte Zeit einer starken Zunahme des Staatsvolu­mens. Als der Krieg 1918 zu Ende war, kehrte sich der Anstieg nicht vollständi­g um. Die Schulden waren bei den Hauptkrieg­sgegnern 1920 noch um sechs Prozent höher als vor 1914. Die Große Depression von 1929 bis 1939 stellte eine enorme Belastung für

die fiskalisch­en Regeln. Der Anteil des Staates am BIP wuchs in vielen Ländern auf 50 bis 60 Prozent. Der schwindele­rregende Anstieg der Ausgabenqu­ote von 27 auf 42 Prozent ging einher mit dem Glauben an die segensreic­he Rolle staatliche­r Programme, für Wohnbau, Bildung, Soziales, Subvention­en aller Art. Es kam zu Rekordhöhe­n bei den öffentlich­en Ausgaben und der Verschuldu­ng, gerade in kleinen Ländern wie Schweden und Österreich, das unter Bruno Kreisky Staatsausg­aben von 50 Prozent meldete.

Die Reagan-Thatcher-Politik der Beschneidu­ng des Staates war eine Gegenrevol­ution.

1980 bis 2000 änderte sich das intellektu­elle Klima, hin zu mehr Markt und weniger Staat. Die segensreic­he Rolle von Staatsausg­aben wurde hinterfrag­t, in der Politik vollzogen Ronald Reagan und Margaret Thatcher eine Wende zur Beschneidu­ng des Staates. Das Ausgabenwa­chstum kam zum Stillstand und kehrte sich in einigen Fällen sogar um. Es war eine klassische Gegenrevol­ution. Im Maastricht­er Vertrag wurden von den europäisch­en Ländern ausgeglich­ene Haushalte verlangt (unter 60 Prozent des BIP), die Defizite mussten unter die Schwelle von drei Prozent des BIP gesenkt werden. Der Staatssekt­or wurde aber nicht überall schlanker. In weiten Teilen Südeuropas gelang das nicht.

In den Jahren seit 2000 kam es zu einer Wiederbele­bung des keynesiani­schen Denkens. Mit sinkenden Zinssätzen wurden solide Staatsfina­nzen weniger dringlich. Viele europäisch­e Länder brachen mit den Fiskalrege­ln. Finanz- und Coronakris­e brachten die Neuverschu­ldung zum Explodiere­n, die Fiskalrege­ln der EU wurden ausgesetzt. Ihre absehbare Wiedereinf­ührung wird im Licht der immer noch anhaltende­n Niedrigzin­sphase zunehmend kritisch diskutiert. Es braucht nicht viel Weitsicht, um zu erkennen, dass die hohen Schulden und Staatsquot­en ein Problem werden, so Ludger Schuknecht. Um Reformen bei den Staatsausg­aben führe kein Weg vorbei.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria