»Merkel hat die CDU grüner gemacht«
Ralph Bollmann, Biograf der deutschen Kanzlerin, über ihre ostdeutsche Prägung, darüber, was sie mit den Grünen verbindet, und warum sie die CDU »gerettet« hat.
Willy Brandt war der Vater der Entspannungspolitik, Helmut Kohl der Kanzler der Einheit. Welchen Beinamen wird die Geschichte Angela Merkel geben?
Ralph Bollmann: Sie ist die Krisenkanzlerin. In den ersten drei Jahren, bis zur Finanzkrise 2008, fehlten ihrer Kanzlerschaft der Sinn und das Ziel. Sie hat ihre historische Mission dann darin gefunden, Deutschland gut durch große Krisen hindurchzuführen und in unsicheren Zeiten ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Ich könnte mir vorstellen, dass für viele diese 16 MerkelJahre irgendwann als so etwas wie „die gute alte Zeit“erscheinen.
Sie haben jetzt eine dicke Biografie geschrieben. Ist über die Kanzlerin nicht schon alles erzählt?
Nein. Tatsächlich ist es die erste neu geschriebene Biografie seit Beginn ihrer Kanzlerschaft. Und mit dem Abstand der Jahre wirft man einen anderen Blick auf viele Dinge.
Zum Beispiel?
Die Prägung Merkels durch ihre DDRErfahrung wird in Deutschland unterschätzt. Bei angelsächsischen Beobachtern steht das viel stärker im Fokus. Ihre unglaubliche Geduld und ihre Vorsicht im Umgang mit Gesprächspartnern in der Öffentlichkeit spiegeln Erfahrungen, die sie als Pfarrerstochter in der DDR-Diktatur gemacht hat. Noch wichtiger: Das Erleben des Systemzusammenbruchs hat sie als Krisenkanzlerin prädestiniert. Sie weiß, dass Dinge sehr grundsätzlich schiefgehen können, und schätzt deshalb den Wert des Kompromisses.
Täuscht das oder verdüsterte sich Merkels Weltbild im Laufe ihrer Kanzlerjahre?
Nein, das täuscht nicht. Mit Merkel geht die letzte westliche Regierungschefin, die noch Diktaturerfahrung hat. Sie hat einmal eine Parallele zum 30-jährigen Krieg gezogen: Damals kam eine neue Generation an die Macht, die die furchtbaren Konfessionskriege vor dem Augsburger Religionsfrieden nicht mehr erlebt hatte und nicht mehr so viele Kompromisse machen wollte. Merkel sieht heute bei Sebastian Kurz und Politikern seiner Generation dieselbe Gefahr, dass sie kompromissloser agieren, zu Alleingängen neigen – und nicht wissen, was dabei auf dem Spiel steht.
Ein Alleingang wurde auch Merkel in der Flüchtlingskrise, einem prägenden Ereignis ihrer Kanzlerschaft, vorgeworfen, als sie Hunderttausende Asylwerber ins Land ließ. Viktor Orba´n hatte ihr eine Falle gestellt, als er die Flüchtlinge mit Bussen an die Grenze fahren ließ. Hätte Merkel die Grenze geschlossen, wäre er der Erste gewesen, der sie als kaltherzige Anti-Europäerin porträtiert hätte. In der Flüchtlingsfrage handelte Merkel in der für sie typischen Mischung aus einigen wenigen Grundüberzeugungen und großem Pragmatismus in der Alltagspolitik. Ob die Steuersätze ein bisschen höher oder niedriger sind, hält sie für nicht so entscheidend, und bei der Abschaffung der Wehrpflicht ließ sie ihren Verteidigungsminister Guttenberg gewähren. Bei den Flüchtlingen lautete das pragmatische Motiv, den Schengen-Raum zu retten, indem Deutschland bis zu einer europäischen Lösung des Problems die Flüchtlinge aufnimmt. Zugleich ging es hier auch um Prinzipien. Neue Zäune in Europa zu errichten, das hätte Merkel aus ihrer Biografie heraus niemals getan.
Viele Deutsche irritierte in der Flüchtlingskrise weniger die Ankunft der Geflüchteten an dem ersten September-Wochenende 2015 als der monatelange Kontrollverlust, der danach kam.
Auch der „Kontrollverlust“ist zu einem Kampfbegriff geworden. Wenn es ihn gab, dann nicht wegen der offenen Grenzen, sondern weil die Behörden nicht in der Lage waren, die Flüchtlinge zu registrieren. Da zeigte sich ein Bürokratieversagen, das wir auch wieder in der Coronakrise gesehen haben.
Merkel hinterlässt nach Ansicht vieler Beobachter einen Reformstau, den nun ihr Nachfolger abarbeiten muss. Woran liegt das? An Merkels Urerfahrung zu Beginn ihrer Kanzlerschaft, als sie die Bundestagswahl 2005 mit einem ambitionierten Reformprogramm beinahe verloren hätte. Danach hat sie auf Vorsicht umgeschaltet und – wenn überhaupt – nur behutsam Veränderungen herbeigeführt. Der damalige SPD-Vorsitzende, Franz Müntefering, hat ihr 2005 gesagt: „Wir können über eine Koalition reden, wenn Sie Ihre wirtschaftsliberalen Reformen in die Tasche stecken.“Danach ist Merkel nie wieder auch nur mit einem Wort auf den radikalen Umbau des Sozialstaats zurückgekommen, wie Müntefering berichtet hat. Übrigens glaube ich, Merkel sieht die Verantwortung für den Reformstau am Ende ihrer Amtszeit nicht bei sich selbst.
Warum nicht?
Kaum jemand konnte die Trägheit des deutschen Establishments so wortreich beklagen wie Angela Merkel. Sie fand die Führungskräfte im Land, gerade auch in der Wirtschaft, oft zu unflexibel und unbeweglich. Dass sie als Bundeskanzlerin längst Teil des Establishments war, hat sie wohl nicht verinnerlicht, so kurios das auch klingt. Sie war ja immer in einer Außenseiterrolle gewesen, erst in der DDR und später dann in gewisser Weise auch in der CDU. Aber wenn man 16 Jahre lang die Regierungsgeschäfte führt, kann man nicht mehr alles auf andere abschieben.
Sollte eine starke Regierungschefin wie Merkel nicht den Mut aufbringen, unpopuläre Reformen in einer „trägen“Gesellschaft voranzutreiben?
Da würde Frau Merkel immer sagen: Dann bleibt man halt nicht 16 Jahre Kanzlerin, das ist der Preis der Stabilität. Dem damaligen EU-Kommissionschef, Jose´ Manuel Barroso, hat sie das während der Eurokrise einmal ganz offen gesagt: Ich kann den jeweils nächsten Schritt mit Blick auf die heimischen Euroskeptiker immer erst dann gehen, wenn er sich als Ultima Ratio darstellen lässt. Sonst verliere ich meine Mehrheit, und dann kommt in Deutschland ein Regierungschef an die Macht, der viel weniger europäisch denkt als ich selbst.
Unter Merkel wurde die Koalition mit den Sozialdemokraten die Regel, davor war sie die Ausnahme. Auch interne Kritiker werfen ihr vor, sie habe die Union ein Stück weit sozialdemokratisiert.
Nein. Ich würde sogar sagen, Merkel steht mit ihren eher marktwirtschaftlichen Überzeugungen wirtschaftspolitisch rechts von Konrad Adenauer oder Helmut Kohl, die den Sozialstaat stark ausgebaut haben – von der dynamischen Rente bis zur Pflegeversicherung. Sie hat eher eine gewisse Nähe zum grünen Milieu.
Inwiefern?
Ihre Bohe`me-Existenz in der späten DDR, als junge Akademikerin in einer Altbauwohnung, die Rucksackreisen per Anhalter unternahm: Da gibt es Berührungspunkte zum grünen Milieu im Westen. Wenn überhaupt, hat sie die CDU ein Stück weit grüner gemacht.
16 Jahre Kanzlerschaft haben der CDU jedenfalls auch einige Ecken und Kanten abgeschliffen. Hat Merkel die Partei inhaltlich entkernt?
Ich würde eher sagen: Sie hat die Partei gerettet. Und zwar zweimal. In der Spendenaffäre mit der klaren Abgrenzung von Helmut Kohl. Sie hat damit eine Entwicklung wie in Italien verhindert, wo die Christdemokratie in einer Spendenaffäre auf Nimmerwiedersehen untergegangen war. Und sie hat der Partei neue Wählerschichten erschlossen. Die Strategen in der CDUZentrale können Ihnen genau vorrechnen,
Merkel-Biografie.
Ralph Bollmann hat kurz vor Ende der Ära Merkel eine umfassende Biografie über die deutsche Kanzlerin vorgelegt („Angela Merkel: Die Kanzlerin und ihre Zeit“, Verlag C.H. Beck, 800 Seiten, 30,95 Euro).
Ralph Bollmann
Der Historiker und Wirtschaftskorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“(52) begann seine Karriere bei der „TAZ“in
Berlin, ehe er 2011 zur „FAS“wechselte. 2013 veröffentlichte er das Buch „Die Deutsche: Angela Merkel und wir“. wie viele CDU-Wähler jede Legislaturperiode sterben. Merkel hat diese Überalterung durch das Erschließen neuer Wählerschichten kompensiert. Selbst ihr vermeintlich desaströses Wahlergebnis 2017 war mit 32,9 Prozent etwas besser als zur gleichen Zeit die 31,5 Prozent von Sebastian Kurz, die von den deutschen Merkel-Kritikern gefeiert wurden.
Hatte Merkel eine Vision für Deutschland? Ich denke, sie sieht das ähnlich wie Helmut Schmidt, der gesagt haben soll: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“Sie hat eher ein Popper’sches Verständnis von Politik: Nicht die Privatmeinung des Regierungschefs zählt, sondern die Interessen, in deren Schnittpunkt er steht. In der „Antigone“des Sophokles heißt es: „Wer nur nach seinem Sinn regiert, herrscht bald allein in einem leeren Land.“Das wäre auch Merkels Antwort auf Ihre Frage.
Was ist die größte Baustelle nach der Ära Merkel?
Kurioserweise die Klimapolitik. Merkel hat das Thema auf dem internationalen Parkett immer vorangetrieben, schon als Umweltministerin in den 1990er-Jahren. Aber in Deutschland selbst hat sich sehr wenig getan. Ob man nun die Autobranche betrachtet, die das Thema lang verschlafen hat, oder den schlechten Zustand der Deutschen Bahn, die Merkel nie ein besonderes Anliegen war: Darin liegt schon ein Versagen.
Deutschland stieg in den Merkel-Jahren zum „Halb-Hegemon“in Europa auf. Das lag an der Wirtschaftskraft und der politischen Stabilität. Aber ein bisschen auch an der Autorität der dienstältesten Regierungschefin. Was bedeutet Merkels Abgang für Europa?
Natürlich ist das ein Einschnitt, aber ich wäre da nicht so skeptisch. Alle drei Kanzlerkandidaten stehen für eine ambitioniertere Europapolitik, mehr jedenfalls als die frühe Merkel: Als ehemalige DDR-Bürgerin hatte sie nie den idealistischen Blick auf Europa wie ein Helmut Kohl. Für sie waren immer die Bundesrepublik und die USA der große Bezugspunkt, nicht die EU. Auch Merkel musste in ihre Rolle erst hineinwachsen.