Die Presse am Sonntag

Vergletsch­erung der Gefühle

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Er ist einer der bedeutends­ten Filmregiss­eure der Gegenwart. Seine kompromiss­losen Kunstwerke begeistern, bewegen, verstören. Oscar-Preisträge­r Michael Haneke seziert die Psyche seiner Darsteller, denen Empathie und Liebe abhandenge­kommen sind.

Ich weigere mich, das Filmemache­n als Industriep­rodukt zu sehen. Wenn ich das tue, wenn ich dauernd mit dem Aspekt im Hinterkopf arbeite: ,Wie viele Zuschauer kann ich erreichen?,’ dann werde ich – für die Art von Film, die ich meine – nichts Vernünftig­es zusammenbr­ingen“, meint er bereits vor 27 Jahren.

Michael Haneke. Einer der bedeutends­ten Filmemache­r der Gegenwart. Inzwischen sind seine Filme mit den renommiert­esten Preisen des internatio­nalen Kinos – vom Oscar bis zum Golden Globe – ausgezeich­net. Seit „Das weiße Band – eine deutsche Kindergesc­hichte“über Unterdrück­ung, Missbrauch und Misshandlu­ng, wird der Regisseur und Drehbuchau­tor gefeiert. Seine ersten drei Kinofilme – alles andere als Publikumse­rfolge – fasst er selbst als Trilogie über die Vergletsch­erung der Gefühle zusammen.

Michael Horowitz

Mit dem Elfriede Jelinek-Stoff „Die Klavierspi­elerin“triumphier­t Haneke 2001 bei den Filmfestsp­ielen in Cannes und wird mit dem Großen Preis der Jury ausgezeich­net: Der Film zeigt das bedrückend­e Lebensdram­a einer Wiener Pianistin (Isabelle Huppert) über Autoaggres­sion, Erniedrigu­ng, Zwangsneur­osen und die Unfähigkei­t, Lust zu spüren.

Es sind keine gemütliche­n Filme, mit denen Michael Haneke sein Publikum konfrontie­rt, oft auch qualvoll verstört. Es sind analytisch­e Meisterwer­ke fern des Mainstream-Kinos. Geschichte­n, die kompromiss­los sind und beklemmen. Es sind Berichte über psychische Abgründe, über emotionale Defizite, die Haneke subtil freilegt: „Ich glaube, als Filmemache­r vergewalti­gt man den Zuschauer“, bekennt Haneke in einem Interview mit der Süddeutsch­en Zeitung, „ich will ihn zur Selbststän­digkeit vergewalti­gen. Ich will ihn dazu nötigen, selbst zu denken. Ich will ihn mit Widersprüc­hen konfrontie­ren, die er selbst lösen muss. Ich will ihm keine Lösung geben. Weil er dann schlagarti­g aufhört zu denken.“

Der vor fast 80 Jahren in München geborene Michael Haneke wächst in Wiener Neustadt auf, wo seine Familie eine Landwirtsc­haft betreibt. Seine Mutter ist die Burgschaus­pielerin Beatrix von Degenschil­d. Alexander Steinbrech­er, Komponist von schmalzigs­timmungsvo­llen Liedern wie „Ich kenn´ ein kleines Wegerl im Helenental“ist in zweiter Ehe mit Michaels Mutter verheirate­t. Nach dem Tod Degenschil­ds lernt Steinbrech­er die Kostümbild­nerin Elisabeth Urbancic, die Mutter von Christoph Waltz, kennen und lieben – die beiden Oscar-Preisträge­r Haneke und Waltz haben denselben Stiefvater.

Erstes Drehbuch. Mit 17 beendet Haneke seine Schulkarri­ere. Er will Schauspiel­er werden. Nach der misslungen­en Aufnahmepr­üfung am Reinhardt Seminar holt er die Matura nach, bricht das Philosophi­e- und Psychologi­estudium ab, versucht sich als Filmund Literaturk­ritiker und zieht als

Fernsehdra­maturg nach Baden-Baden. Bereits während der Zeit beim Südwestfun­k schreibt er sein erstes Drehbuch: „Wochenende“, das nicht realisiert wird. 1973 entsteht sein erster Fernsehfil­m „ ... und was kommt danach? (After Liverpool)“.

Fast ein Vierteljah­rhundert später ist sein umstritten­es Gewaltepos „Funny Games“nach 35 Jahren der erste Wettbewerb­s-Beitrag aus Österreich in Cannes. Bereits acht Jahre zuvor wird bei den Filmfestsp­ielen in einem Nebenwettb­ewerb sein Kinodebütf­ilm „Der siebente Kontinent“gezeigt. Haneke ist ein Pedant, ein Perfektion­ist. In seinen Filmen achtet er, Alfred Hitchcock ähnlich, auf kleinste Details. Scheinbare Nebensächl­ichkeiten können monströse Bedeutung erlangen.

Seit zehn Jahren bewohnt der privat stille, kühl und scheu wirkende Drehbuchau­tor, Film- und Opernregis­seur mit seiner Frau Susanne, deren kleines, feines Antiquität­engeschäft in der Josefstädt­er Straße durchaus als Schauplatz einer Haneke-Abrechnung mit der bürgerlich­en Gesellscha­ft fungieren könnte, ein mehr als 400 Jahre altes Wasserschl­oss im Waldvierte­l. Mit 100 Fenstern.

Über Brutalität im Kino sagt er 2008: „Ich glaube nicht, dass ein einzelner Film eine Gewaltvorl­age sein kann. Die Summe der Gewaltporn­ografie führt zu einer Herabsetzu­ng der

Haneke ist ein Perfektion­ist, achtet, Hitchcock ähnlich, auf kleinste Details.

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