Der große russische Braindrain
Seit dem Ende der Sowjetunion sind Millionen Russen in einigen Wellen emigriert. Seit Putins Herrschaft gehen vor allem Junge und Gebildete in den Westen. Mit gravierenden Folgen.
Denkt man sich in die russische Staatsführung hinein, kann man vielleicht sogar nachvollziehen, warum sie nicht nur Medien zu „ausländischen Agenten“erklären und so als staatsfeindlich diskreditieren ließ, sondern auch das renommierteste Meinungsforschungsinstitut Levada. Mit seinen Umfragen nämlich fördert es die wahre Stimmung im Volk zutage. Und die kann mitunter auch unangenehm sein.
Zuletzt im Juni. Auf die Frage nach dem Wunsch zu emigrieren, antworteten 22 Prozent mit „Ja“oder „Eher ja“. Das ist um fast 50 Prozent mehr als 2017 und wieder gleich viel wie in den Jahren 2011 bis 2013, als der damalige politische Protest niedergeschlagen und die Aussicht auf einen politischökonomischen Frühling verschwunden war. Unter den 18- bis 24-Jährigen wollen übrigens 48 Prozent emigrieren.
22 Prozent der Bevölkerung – das sind 32 Millionen Menschen. Würden sie tatsächlich gehen, wäre das ein Strom, den die Welt noch nicht gesehen hat. Allerdings wohl auch nicht sehen wird. Denn eigentlich handle es sich um einen „infantilen Traum“, wie Levada-Chef Lev Gudkov das Ergebnis interpretiert. Konkrete Schritte – Vorbereitung der Dokumente, Erlernen der Sprache, Aufbau von Kontakten im Zielland – setzt nämlich nur ein Teil. Eine Umfrage unter ihren Studierenden habe zwei bis drei Prozent ergeben, erzählt Michail Denisenko, Direktor des Instituts für Demografie an der Moskauer Higher School of Economics, im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.
Kofferstimmung. Und doch gibt sich auch Denisenko alarmiert. Denn zu der „Kofferstimmung“, von der man im Land spricht, so als hätten alle ihre Sachen gepackt, komme das Faktum, dass heute die tatsächlichen Emigranten vor allem jung und gebildet seien. „Das ist der Unterschied zu den späten 1980erund den 1990er-Jahren.“Die russische Emigration sei ein wahrer Braindrain.
Die statistische Erfassung ist kompliziert. Die russischen Behörden zählen nur diejenigen, die sich tatsächlich abmelden. Wissenschaftler hingegen stufen diejenigen als Emigranten ein, die sich im Ausland ordnungsgemäß anmelden. Demzufolge gingen laut Denisenko in den vergangenen zehn Jahren pro Jahr zwischen 60.000 und 80.000 Personen aus Russland in den Westen – sprich in Länder außerhalb von Russlands GUS-Nachbarstaaten. Für das vergangene Jahrzehnt ergebe das 600.000 bis 700.000 Emigranten.
„Wenn die Zahlen nur annähernd stimmen, hat Russland ein gravierendes Problem. Denn es hat binnen eines Jahrzehnts ein Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung und außerdem die unternehmerischsten und innovativsten Leute verloren“, sagt Sergej Guriev, Professor an der Pariser Hochschule Sciences Po, zur „Presse am Sonntag“. Guriev selbst ist 2013 emigriert. Später wurde er erster russlandstämmiger Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.
Wie viel eine Volkswirtschaft durch einen derartigen Braindrain verliere, sei laut Guriev zwar nicht messbar. Und Russland stehe mit dem Problem, das alle Schwellenländer hätten, auch nicht allein da. Das Drama für Russland bestehe aber darin, dass es ein neues Wirtschaftsmodell jenseits von Öl und Gas brauche. Das aber könne nur vom Humankapital kommen. „Die vergangenen zehn Jahre haben gezeigt, dass die Machthaber keine Vision haben, eine Wirtschaft zuzulassen, in der sich die Talentiertesten selbst verwirklichen können. Und es zeichnet sich auch für die nächsten zehn Jahre nicht ab.“
Hauptmotiv für die Emigration bleibt daher der Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten, schließlich befindet sich das Land seit 2013 de facto in der Stagnation. Als zweites Hauptmotiv gilt freilich einfach die Attraktivität des Westens, auf deren Migrationspolitik Ausreisewillige reagieren.
Und diese wandelte sich im Laufe der vergangenen 35 Jahre, in denen laut
Soziologen Gudkov unterm Strich etwa vier Millionen Bürger Russland verlassen haben, gehörig. Ende der Sowjetzeit hatten Repatriierungsprogramme zu einer massenhaften ethnischen Auswanderung von Russlanddeutschen, Juden und anderen Gruppen geführt. Dazu kamen Flüchtlingsprogramme, von denen aber nach der Jahrtausendwende nur das für Tschetschenen übrigblieb. Und Repatriierung betreibe heute auch nur noch Israel – weshalb es das einzige Land sei, das in den vergangenen Jahren ein auffälliges Wachstum an Immigranten aus Russland verzeichnet habe, wie Demograf Denisenko erklärt: Seien es 2012 etwa 3000 bis 4000 gewesen, so 2019 ganze 16.000 bis 17.000. In den anderen Hauptemigrationsländern (Deutschland, USA, Kanada, Italien) liege die russische Zuwanderung auf stabil hohem Niveau.
Und während in den 1990er-Jahren der Braindrain aus Wissenschaftlern und Fachleuten der Industrie bestanden hat, besteht er heute aus Wissenschaftlern, Studenten, Unternehmern, IT-Fachleuten und Finanzexperten. „Die Auswahlkriterien der Zielländer sind strenger geworden“, so Denisenko: Gerade bezüglich Ausbildung, Sprachkenntnis und Einkommensnachweis.
»Russland hat die unternehmerischsten und innovativsten Leute verloren.«
Kaum Immigration nach Russland. Dass Russland umgekehrt kaum einem Ausländer eine permanente Aufenthaltsgenehmigung oder Staatsbürgerschaft erteilt, wird von Demografen und Ökonomen gleichermaßen kritisiert und als Mitgrund für das schlechte Investitionsklima gesehen. Russland hatte schon einmal eine andere Politik verfolgt: Im 18. Jahrhundert, als etwa die deutschstämmige Zarin Katharina die Große Tausende deutsche Handwerker und Bauern ins Land gebeten hat. Später, in der Sowjetzeit, wurden deren Nachkommen diskriminiert. Seit den 1980er-Jahren emigrierten 2,3 Millionen von ihnen nach Deutschland. Von denen, die blieben, sind einige richtig mächtig geworden. Der Gaskonzern Gazprom wird vom Russlanddeutschen Alexej Miller geleitet, die landesweit größte Bank Sberbank von seinem Landsmann Herman Gref.