Wenn Hände unter (zu viel) Druck stehen
Taube Finger, kribbelnde Hände, pochende Gelenke: Über zehn Prozent der Österreicher kennen das Problem, unter Radfahrern sind es gar an die 80 Prozent. Der Grund liegt im Karpaltunnel, die Lösungen reichen von neuen Griffen bis zur OP.
Ich habe es beim Radfahren bemerkt: Erst wurden nur Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand taub, dann immer mehr davon“, sagt Franziska M. Immer wieder löste sie während der acht Kilometer langen Fahrt in die Arbeit ihre Hand vom Lenker, um sie zu schütteln. „Ein paar Minuten hatte ich so Ruhe, dann ging es wieder von vorn los.“Bald mengten sich Schmerzen zu der „lästigen Bamstigkeit“: „Mein Handgelenk begann wild zu pochen, meine Finger schwollen an.“
Und das nicht nur auf dem Fahrrad: „Die Hand schlief auch beim Telefonieren, Autofahren, Erdäpfelschälen und nachts ein, wovon ich aufwachte. Immer öfter musste ich sie kneten und schütteln, um sie wieder aufzuwecken und das Pulsieren zu beenden“, erzählt die Wienerin. „Vor acht Monaten wurde es schließlich so schlimm, dass ich jedes Mal, wenn ich meinen Arm locker nach unten hängen ließ, meine Finger nicht mehr richtig spürte.“
Mit ihren Beschwerden ist Franziska nicht allein: Zwischen zehn und 15 Prozent der Österreicher klagen über zeitweise taube, kribbelnde, schmerzende Finger und Handgelenke. Unter jenen, die sich (Hobby-)Radfahrer nennen, sind es gar bis zu 80 Prozent, wie aktuelle Schätzungen nahelegen. Ursache des handfesten Unwohlseins ist das Karpaltunnelsyndrom.
Lenker, Griff, Polsterung. „Es handelt sich um ein Kompressionssyndrom des Nervus medianus auf der Höhe des Handgelenkes“, sagt Handchirurg Markus Figl. Dort befindet sich der namensgebende Karpaltunnel, ein Kanal zwischen den Handwurzelknochen, durch den der Mittelhandnerv und die Beugesehnen verlaufen. Ist der Tunnel eher eng ausgestaltet, kann es bei häufigem Druck auf das Gelenk zu Entzündungen und Schwellungen kommen, die den Nerv abdrücken. „Personen, die oft auf Tastaturen schreiben oder viel Rad fahren, dabei aber eine nicht optimale Haltung einnehmen, sind besonders anfällig dafür“, schildert Figl.
Vorbeugen lässt sich einerseits mit ergonomischen PC-Utensilien, andererseits mit individuell adaptierten Fortbewegungsmitteln. „Beim Kauf von Fahr- oder Motorrad sollte auf die Position des Lenkers geachtet werden“, sagt Figl, der auch als Orthopäde und Unfallchirurg tätig ist. Ist er zu gerade, wird das Handgelenk seitlich überstreckt, schonender sind Lenker mit einer Biegung nach hinten.
Größe und Dicke der Griffe sind ebenfalls relevant: „Je größer die Auflagefläche, umso besser die Druckverteilung.“Weiters zu beachten ist, dass das Handgelenk in einer geraden Linie von der Hand in den Unterarm übergeht. „Mit Schaumstoff oder Gel gepolsterte Handschuhe können zusätzlich entlastend, weil stützend, wirken“, meint Figl.
Zweimal mehr Frauen. „Manchmal tritt das Karpaltunnelsyndrom auch ohne eindeutigen Grund auf oder rührt von hormonellen Veränderungen her, etwa während oder nach einer Schwangerschaft“, gibt Ulrich Koller, Leiter der Sportorthopädie an der Uniklinik für Orthopädie an der Medizinischen Universität Wien, zu bedenken. „Das Auftreten von Ganglien, knöchernen Veränderungen oder Hämatomen begünstigst es ebenfalls.“
Die Folgen sind dieselben: „Taubheit und ein penetrantes Druckgefühl in Daumen, Zeige- und Mittelfinger sowie
Facharzt für Orthopädie, Traumatologie und Unfallchirurgie in der Hälfte des Ringfingers“, fasst Figl zusammen. „Je länger es nicht behandelt wird, umso intensiver werden die Schmerzen und das Taubheitsgefühl.“Arithmetisch betrachtet: „Das Syndrom, übrigens das häufigste Nervenengpasssyndrom, betrifft Frauen zweimal öfter als Männer, beide aber meist zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr“, sagt Koller. „Zu finden ist es in der Regel bei der dominanten Hand, nicht selten bei beiden.“
So geschehen bei Raphaela S. „Ich bin mehrfach prädestiniert und habe es doppelt bekommen“, erzählt die Friseurin. „Nicht nur, dass meine Oma und meine Mutter das Syndrom hatten, sondern ich halte meine Hände auch täglich stundenlang in verwinkelten Positionen“, sagt die Steirerin. „An vier Tagen gebe ich noch Tischtennisunterricht – besser gesagt: habe ich gegeben.“Denn: „Ich kann den Schläger nicht halten, ohne dass es wehtut.“
Klopfen und stauchen. Ob nun eine oder beide Hände betroffen sind, für eine Diagnose bedarf es eines mehrstufigen Verfahrens: „Zum einen gibt das Hoffmann-Tinel-Zeichen Aufschluss“, sagt Mediziner Figl, vereinfacht auch Klopftest genannt: „Die Innenseite des Handgelenks wird beklopft – folgt darauf ein elektrisierendes Gefühl in Daumen, Zeige- oder Mittelfinger, ist das ein erster Hinweis.“Beim Phalentest wiederum wird der Nerv zusätzlich manuell komprimiert, was eine Verstärkung des Kribbelns oder Taubheitsempfindens bewirkt.
Zuweilen wird auch ein MRT oder ein CT des Handgelenkes durchgeführt. „Diese Untersuchungen sind aber eher zeit- und kostenintensiv“, räumt Koller ein. Definitive Sicherheit ergeben hingegen der Nervenultraschall sowie die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, folglich die Überprüfung, wie es um das Zusammenwirken von Nerv und Muskel bestellt ist. „Der Nerv wird dafür mehrfach elektrisch stimuliert und seine Aktivität dokumentiert“, erläutert Koller. „Ob eine Einengung vorliegt und in welcher Intensität, ist damit objektiv eindeutig nachweisbar.“
Ist ein Karpaltunnelsyndrom diagnostiziert, wird zunächst zur konservativen Therapie gegriffen, die in erster Linie aus den Komponenten Ruhe und Entlastung besteht: „Wir bereden mit den Patienten, welche manuellen Haltungen oder Tätigkeiten zu vermeiden sind, um keine zusätzliche Reizung zu bewirken“, sagt Koller. Als Unterstützung dienen Schienen, die vorrangig nachts dafür sorgen sollen, das Handgelenk zu fixieren.
Kleiner Schnitt. „Isometrisches Training, also statische Kraftübungen, die Infiltration von Kortison in den Bereich des Karpaltunnels und die sogenannte Iontophorese können ebenfalls helfen“, zählt Koller auf. Hinter Letzterem verbirgt sich eine niederfrequente Elektrotherapie: Auf das Handgelenk wird eine Salbe aufgetragen und es danach in eine Elektrolytlösung gelegt. Der Zweck: Die Wirkstoffe sollen vom Körper besser aufgenommen werden.
„Tritt nach drei bis sechs Monaten keine Besserung der Beschwerden auf, empfiehlt sich die Operation“, sagt der orthopädische Chirurg. Um den Nervus medianus aus seiner Beklemmung zu befreien, wird das Retinaculum flexorum, gewissermaßen das Dach des Karpaltunnels, durchtrennt. Dazu wird die Haut am inneren Handgelenk etwa zwei Zentimeter weit geöffnet und das Band gespalten.
„Es ist eine der häufigsten Operationen, die überhaupt durchgeführt werden“, sagt Figl. „Die Patienten benötigen keine Narkose, eine örtliche Betäubung reicht völlig aus.“Nach fünf bis zehn Minuten ist der Eingriff auch schon wieder vorüber – „der Nerv kann wieder in seinem Kanal gleiten, man könnte fast sagen, er kann aufatmen, da der Druck weg ist“, sagt Figl.
„In den meisten Fällen sehen wir die Patienten danach nur noch ein Mal wieder – nämlich zur Nahtentfernung nach sieben Tagen“, erzählt der Arzt. Ausnahmen gibt es freilich: „Wer sich jahrelang mit einem Karpaltunnelsyndrom durch das Leben quält, macht seinen Nerven keine Freude, sondern riskiert aufgrund der anhaltenden Kompression einen dauerhaften Schaden.“In anderen Worten: „Die Sensibilität der Finger bleibt gestört, die Kraft – insbesondere jene des Daumens – wird schwächer.“
Ein Risiko, das Franziska M. nicht eingehen wollte. Sie hat bereits zwei Messungen der Nervenleitfähigkeit der rechten Hand hinter sich: „Beim niedergelassenen Arzt dauerte das zehn Minuten und ergab nichts, im Spital wurde 20 Minuten lang gemessen und eine Verengung festgestellt.“Eine Woche später folgte die OP. „Davor nahm ich ab und an Tabletten, nun brauche ich sie nicht mehr, der Schmerz ist komplett weg“, sagt die Kosmetikerin. Auch Radfahren kann sie ungestört: „Heute hebe ich die Hand nur vom Lenker, um zu zeigen, dass ich abbiege – oder um jemandem zu winken.“
»Erst wurden nur Daumen und Zeigefinger taub, dann immer mehr von der Hand.«