Die Steine im Bildungsweg gehörloser Ki
Die Österreichische Gebärdensprache wurde lang tabuisiert. Auch heute haben es Betroffene noch schwer. Wenn es um die Frühförderung und Bildung gehörloser oder schwerhöriger Kinder geht, gibt es noch viel zu tun.
Barbara Schuster ist auf dem Land aufgewachsen, in Südtirol. Dass sie gehörlos ist, war ihr als kleines Kind nicht bewusst. Ihre Mutter vermutete es. Ihr kam vor, als wäre ihr Mädchen von visuellen Reizen faszinierter als andere Kinder. Besonders die fliegenden Hände eines gehörlosen Verwandten zogen sie an. Medizinische Abklärung gab es damals nur in Tirol. Auch die Möglichkeit, eine Gebärdensprache zu lernen, fehlte. Das lag auch daran, dass es gesellschaftlich nicht erwünscht war. Im Kindergarten waren Gebärden sogar ausdrücklich verboten. Was Schusters Mutter nicht davon abhielt, eine eigene Sprache zu entwickeln. „Stundenlang saßen wir vor selbst gemachten Lehrbüchern und studierten eigene einfache Gebärden“, schreibt die heute 47-jährige Wahlwienerin in einer E-Mail-Unterhaltung.
Heute unterstützt Barbara Schuster als Präsidentin des von ihr gegründeten Vereins Kinderhände kleine Betroffene und ihre Eltern, aber auch Hörende, die sich der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) nähern möchten. Eltern von gehörlosen Kindern werden in Österreich oft allein gelassen oder mit der Aussicht auf ein Cochlea-Implantat, einer Art Hörprothese, abgefertigt. Schusters Verein ist dabei eine einsame Stelle in einem Bildungssystem, das sich nach hörenden Kindern ausrichtet.
Bilinguales Lernen. Zweisprachige Angebote sucht man lang. Nur so viel: In Wien geht die Anzahl der Gebärdensprachdolmetscher an Pflichtschulen oder Kindergärten aktuell gegen null, heißt es vom Österreichischen Gehörlosenbund (ÖGLB). Um ausreichend Sprachkompetenz zu erwerben, vollumfängliche Bildung zu genießen und später ein selbstbestimmtes Leben mit einer beruflichen Aussicht führen zu können, ist es aber nötig, dass gehörlose oder schwerhörige Kinder bilingual in ÖGS und Deutsch unterrichtet werden. Aktuell werden sie aber in der
Regel von Lehrern mit wenigen oder keinen ÖGS-Kenntnissen betreut. Selbst an fünf der sechs Gehörlosenschulen in Österreich sei die Österreichische Gebärdensprache neben Deutsch noch immer nicht als gleichwertige Unterrichtssprache anerkannt. Der Österreichische Gehörlosenbund schätzt, dass es derzeit 10.000 Gehörlose und 450.000 schwerhörige Personen in Österreich gibt. Zwischen 10.000 und 20.000 davon nutzen die Österreichische Gebärdensprache als Erstsprache. Etwa 20 gehörlose Personen dürften derzeit an den heimischen Hochschulen inskribiert sein – von insgesamt zirka 376.000 Studierenden, schätzt der ÖGLB. Konkrete Zahlen über die Statistik Austria, die Bildungsdirektionen oder das Bildungsministerium stünden keine zur Verfügung.
Um die Auswirkungen auf Betroffene dieser Umstände besser zu verstehen, hilft auch Barbara Schusters Geschichte.
Während ihre Familie fest zusammenhielt und aufgeschlossen für die visuelle Sprache war – später sollte auch noch eine Schwester gehörlos zur Welt kommen –, gab ihr die Schulzeit weniger Halt. Schuster erinnert sich an eine schwierige Zeit. „Es gab viele Kommunikationsbarrieren, ich verstand die Inhalte nicht immer. Meine Mitschülerinnen waren hörend und ich musste von den Lippen ablesen, das war anstrengend.“In ihrer Freizeit musste sie immer mehr lernen und üben als andere Kinder. Mit 15 Jahren wechselte sie schließlich auf ein Internat für Schwerhörige. Eine neue Zeit. „Von da an begann ich wirklich zu gebär
Eltern von gehörlosen Kindern werden in Österreich oft allein gelassen.
den und wurde Teil der Gehörlosengemeinschaft. Ein Bewusstsein darüber, dass Gebärdensprachen echte Sprachen mit einer eigenen Grammatik sind, bekam ich erst später, mit 25 Jahren.“Der Besuch eines ÖGS-Grammatik-Workshops in Wien öffnete ihr die Augen. „Ich verstand plötzlich, warum mir das geschriebene Deutsch so schwerfiel, weil mir die Gebärdensprache als Erstsprache fehlte. ÖGS und die deutsche Sprache sind einfach verschieden. Dieses Wissen und das Bewusstsein darüber, dass Gebärdensprachen vollwertige Sprachen sind, stärkte meine Identität als gehörlose Person enorm“, sagt Schuster. Und dieses Selbstbewusstsein als visueller, gebärdender Mensch zu entwickeln, ist auch das Ziel ihrer Kinderhände-Kurse. Wie sich der Bildungsweg eines gehörlosen Kindes darüber hinaus entfaltet, ist von vielen Kriterien abhängig.
Bilingual im Kindergarten. Die 14-jährige Samira Lehmann hatte da noch Glück, seit dem Kindergarten wird sie bilingual betreut und unterrichtet. Dennoch war auch ihr Weg nicht immer leicht. Aktuell besucht sie die Mittelschule Pfeilgasse, in der in einer Mehrstufenklasse Hörende und Gehörlose gemeinsam in ÖGS und Deutsch unterrichtet werden. Der Fortbestand der Klasse ist aktuell aber gefährdet, zumindest ein Jahr soll sie noch weitergeführt werden, danach müssen sich die Schüler offenbar nach neuen Plätzen umsehen.
Samira Lehmann kam schwersthörig zur Welt und ist kulturell gehörlos. Wenn ihre Mutter Angelique an den Weg zurückdenkt, den sie damals bis zur Diagnose gegangen sind, verschwimmen ihre Gedanken.
In den ersten Monaten nach der Geburt konnte man nichts ahnen. Nachdem das Mädchen hohe Frequenzen mit einem Ohr gut wahrnehmen kann, reagierte sie als Baby auf verschiedene Geräusche, die sich in diesem Bereich abspielten, wie das Klingeln einer Türglocke oder eines Telefons. „Außerdem hatte sie ein lebendiges Babylallen, sie plapperte quasi ununterbrochen“, erinnert sich Samiras Mutter. Bis sie drei Jahre alt war, fiel es eigentlich nicht sehr auf. „Dann war mir irgendwann klar, als es allmählich um abstrakte Dinge ging und die Betreuerinnen ihrer Kindergruppe Auffälligkeiten meldeten, dass etwas nicht stimmen kann.“
Bis zum endgültigen Befund dauerte es noch. „Mit dreieinhalb Jahren standen wir vor der Diagnose und alles wurde sehr turbulent. Wir hatten eigentlich keine Unterstützung oder Beratung.“Die erste Ärztin, von der die Antwort „Samira hört auf einem Ohr nichts und auf dem anderen fast nichts“kam, hatte einen nüchternen Rat. Samiras Mutter solle sich nicht so haben, das Kind bekäme wie alle anderen ein Hörgerät und gut ist es. Und damit war sie entlassen.
Implantieren, ja oder nein. Durch ein Cochlea-Implantat kann unter bestimmten medizinischen Voraussetzungen ein inaktiver Hörnerv überbrückt werden. Ärzte raten häufig dazu, gehörlos geborenen Kindern möglichst früh ein CI, so wird es kurz genannt, einsetzen zu lassen, um eine (für Hörende) „normale“Sprachentwicklung, also lautsprachliche Entwicklung, zu fördern. Der Gehörlosenbund weist darauf hin, dass hier die überschaubaren Erfolge des CI oft außer Acht gelassen werden. In der Praxis führe es dazu, dass CI-Kindern keine Gebärdensprache angeboten wird und ihnen damit der Zugang zu einer für sie ohne Probleme wahrnehm- und erlernbaren visuellen Sprache verwehrt bleibt. Das Außenstück zu Samiras Implantat liegt seit Jahren in einer Schublade. Sie wird es auch nicht mehr anrühren, vermutet ihre Mutter. Es funktioniert für sie einfach nicht.
Den Weg zur Österreichischen Gebärdensprache zeigte der Familie Lehmann damals übrigens eine Mitarbeiterin des Krankenhauses, in dem sie den ersten Befund bekamen. Eine Assistentin, die selbst CI-Zwillinge hatte, vermittelte die Mutter kurzerhand an eine Frühförderstelle, wo sie im Weiteren mit dem Verein Kinderhände in Kontakt kamen. „Was auf uns zukam, war ein Gebärdensprachkurs für vier Personen. Das waren auf einen Schlag über 1000 Euro. Auch für Samiras Kurse gab es keinerlei finanzielle Unterstützung“, erinnert sich Angelique Lehmann. Frühförderung ist für gehörlose Kinder essenziell. Wie man weiß, ist das Zeitfenster für den Spracherwerb begrenzt.
Nach dieser ersten, ja, schwierigen Phase, bekam die Familie im Verein Kinderhände, der seinerseits auf Spenden angewiesen ist, die erste richtige Hilfe. „Barbara Schuster ist damals zu uns nach Hause gekommen, hat die ersten Gebärden mit uns gelernt und uns den Weg in die Gehörlosen-Community erleichtert.“Was ein gutes Gegengewicht zu Samiras medizinischer Betreuung war. Am AKH galt die Gebärdensprache damals nicht viel. Gemeinhin
vertrat man die Meinung, wer gebärdet, wird auf Dauer zu faul für die Lautsprache. Für das Mädchen wäre es aber unmöglich, nur mit der Lautsprache im Alltag klarzukommen. Sie spreche zwar sehr gut, sagt ihr Mutter, weil sie sprachbegabt ist und viel liest, aber sie hört die Lautsprache einfach nicht. Kurzum: Sie versteht wenig bis nichts, kann aber antworten, was bei einigen Gehörlosen so ist. Die Lehmanns haben sich die Zweisprachigkeit zu Hause von Beginn an angewöhnt. „Wir verbinden die Gebärden immer mit der Lautsprache, auch weil früher niemand genau wusste, wie viel Samira wirklich hören kann. Lippenlesen ist bei ihr nur sehr marginal ausgeprägt. Sie ist gut im Kombinieren. Von ganz klein auf hat sie gelernt, schnell Zusammenhänge herzustellen, oft reicht ihr ein Wort.“
Ein Hin und Her war es mit dem Hörgerät. Als Samira das Implantat eingesetzt wurde, nutzte sie es anfangs auch. Mit der Zeit wurde es ihr zu viel, weil sie in speziellen Frequenzen eine Übersensibilität hat. Selbst ohne Hörgerät und CI sind ihr manche Geräusche zu laut.
Zeigen statt verstecken. Auch wenn die Vernetzung gehörloser Jugendlicher – speziell während der Pandemie – eine komplizierte Aufgabe sein kann, ist Einsamkeit für die 14-jährige Samira kein Thema. Sie pflegt Freundschaften zu gehörlosen und hörenden Kindern. Es gebe einige kommunikationsoffene, hörende Kinder, mit denen sie sich gut austauschen könne, erzählt ihre Mutter. Für Samiras Zukunft hat sie jedenfalls keine Sorgen. Dazu muss man auch wissen, dass ihre Tochter nicht nur ein charismatisches Mädchen ist, sondern auch zu den wenigen gehörlosen Jungschauspielerinnen im deutschsprachigen
Die Frühförderung gehörloser Kinder braucht besondere Aufmerksamkeit.