MUSICALS: NICHT NUR FÜR WEISSE!
emonstrativ bescheiden: So könnte man Lin-Manuel Mirandas Auftritt im Musicalfilm „In the Heights“auf den Punkt bringen. Als unscheinbarer Raspeleisverkäufer zockelt er durch die Straßen seines Barrios, beglückt die Kinderchen mit leckeren „Piraguas“– und klagt über den Kundenfang des Softeis-Konkurrenten , der seinem Geschäft das Wasser abgräbt. Doch Filmemacher und Publikum wissen, wo der Hammer hängt. Schon springt der Piragüero forsch auf eine Ladefläche, breitet die Arme aus und schmettert: „I run this town!“
Das ist nur vordergründig augenzwinkernd gemeint: In der Realität ist Miranda längst König der (Musical-) Welt. 2015 mauserte sich seine RapOperette „Hamilton“, die den Ursprungsmythos der Vereinigten Staaten mit „People of Color“in den Gründerväterrollen neu erfindet, zum Sensationserfolg. Und machte ihren Schöpfer zu einer Schlüsselfigur der identitätspolitischen Erneuerungsbewegung der USA, die in Fernsehshows herumgereicht und vom damaligen Präsidenten Barack Obama hofiert wurde.
Dass es nicht nur bei 15 Minuten Ruhm blieb, liegt an Mirandas beachtlichem Talent: Der 41-Jährige zeichnete in Personalunion für Buch, Text und Musik von „Hamilton“verantwortlich, spielte darin auch die fordernde Titelrolle des ersten US-Finanzministers. Trotz kritischer Stimmen, die dem Mammutwerk Gesch ichtsklitterung attestierten, ist das komplexe und variantenreiche Singspiel schon jetzt ein Meilenstein der Musical-Historie. Und Miranda ein Fixstern am USEntertainment-Firmament.
Seine Fans warten sehnlichst auf Nachschub. Dieser lässt auf sich warten. Zum Glück gibt es einen Back-Katalog: Mirandas Bühnendebüt „In the Heights“, dessen Erstentwurf der Wunderwuzzi angeblich bereits mit 19 (!) Jahren abgefasst hat (und das 2008 seine Broadway-Premiere feierte), läuft derzeit, nach einjährigem Corona-Embargo, als Kinofilm bei uns.
Proteste und Tratschexzesse. Star der Leinwandshow ist Washington Heights, das titelgebende Grätzel im Norden Manhattans. Ein Einwandererviertel mit Tradition: Schon in der 1930er-Jahren ließen sich hier jüdische NS-Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich nieder, sie nannten es „Frankfurt-on-the-Hudson“. Bis in die 1960er-Jahre war der Bezirk ein Hort der irischen Community, wie der Film an einer Stelle beiläufig anerkennt. Inzwischen bilden Hispanics (wie Miranda selbst), Latinos und Afroamerikaner den prominentesten Bevölkerungsanteil. „In the Heights“versteht sich nicht zuletzt als beschwingte Hommage an diese Schmelztiegelkultur und ihre Spektakelwerte.
Hauptachsen der Handlung sind zwei Liebesgeschichten – eine zentrale zwischen dem jungen US-Dominikaner Usnavi (Miranda-Stammdarsteller Anthony Ramos) und der mexikanischstämmigen Vanessa (Melissa Barrera), eine zweitrangige zwischen Usnavis bestem Freund Benny (Corey Hawkins) und der strebsamen Studentin Nina (Leslie Grace, die demnächst die Superheldin Batgirl verkörpern soll).
Alle hegen sie ihre „sue itos“(hier als „kleine Träume“übersetzt), streben nach Selbstverwirklichung, Erfolg und Liebe. Im Weg stehen ihnen persönliche Schwächen (Sturheit, Eitelkeit, Eifersucht), soziale Umstände (Gentrifizierung, Diskriminierung, Kriminalisierung) und familiärer Druck. Mit erstaunlich hoher Dichte und Detailgenauigkeit fächert Miranda im Zuge von zweieinhalb atemlos vorwärts preschenden Stunden ein buntscheckiges Panorama migrantischen Lebens auf, in dem Proteste gegen die Aussetzung des Daca-Programms (einem temporären Abschiebungsschutz für illegale
„Carmen Jones“(1954). Dieser Film des Österreichers Otto Preminger verlegt die Handlung der Oper „Carmen“in die USSüdstaaten – und ist nur mit schwarzen Schauspielern besetzt. Darunter Harry Belafonte und
Dorothy Dandridge, die für ihre Hauptrolle als erste Afroamerikanerin eine Oscar-Nominierung erhielt.
„West Side Story“(1957). Im Musiktheater-Klassiker von Leonard Bernstein und Stephen Sondheim (sowie in ihrer famosen Verfilmung durch Robert Wise und Jerome Robbins) wird die Tragödie von Romeo und Julia im New Yorker Bandenkrieg zwischen den weißen „Jets“und den puerto-ricanischen „Sharks“durchgespielt.
Einwanderer) ebenso Platz finden wie eine possenhafte Nummer über Nagelstudio-Tratschexzesse. Probleme werden nicht ausgeblendet: Nina kiefelt an ihrer Ausgrenzung im elitären Stanford, Blockmutter Abuela (Olga Merediz) lamentiert über ihr schweres Schicksal zwischen harter kubanischer Vergangenheit und ruchloser Ausbeutung in der Neuen Welt. Doch im Kern ist „In the Heights“friedfertiger Musical-Eskapismus alter Schule.
Lin-Manuel Miranda: dank »Hamilton« eine Schlüsselfigur jüngerer US-Identitätspolitik.
Keine Widrigkeit, die nicht weggetanzt oder niedergesungen werden könnte.
Im Unterschied zu tragisch-ambivalenten Vorläufern („Porgy & Bess“, „Carmen Jones“, „West Side Story“) ist „In the Heights“ein durch und durch optimistisches Unterhaltungsprodukt: Keine Widrigkeit, die nicht weggetanzt oder niedergesungen werden könnte. Im sexy Broadway-Mix aus Hip-Hop, Bolero, Flamenco, Merengue und Co. lösen sich Missstände ebenso auf wie soziale Spannungen. Alle dürfen sich austoben (aber keiner aufbegehren). Der existenzielle Abstiegskampf mündet im individuellen Triumph, nie in kollektiven Erfolgen, Aufgeben ist das einzig wahre Verbrechen: „In Puerto Rico gab es ständig Blackouts“, meint jemand nach einem Stromausfall. „Und wir schmissen trotzdem Fiestas!“Bald schwingen die verschwitzen Hitzeleichen ihre Hüften, zu Ehren aller fröhlich flatternden Banderas. Bis – Viva! – das Licht wieder angeht. Migrantenstolz und der amerikanische Traum vom grenzenlosen Durchpowern, das passte schon immer zusammen.
Wer ein rhythmisch weniger ansteckendes, dafür ausgefransteres New Yorker Migrantenviertelporträt sehen will, dem sei Frederick Wisemans Doku „In Jackson Heights“empfohlen. Lin-Manuel Miranda bleibt indessen Chef des großen US-Intergrationstheaters. Schließlich weiß er: Salsa stärkt die Bauchmuskeln!