Die Presse am Sonntag

Tratsch und Klatsch aus der antiken Welt

- VON GÜNTHER HALLER

Ein chinesisch­er Teenager, der Ägypten besuchte, löste Empörung aus, als er 2013 seinen Namen an die Wand des 3500 Jahre alten Luxor-Tempels schrieb. Aber er war mitnichten der erste Reisende, der das dringende Bedürfnis verspürte, sich hier durch die Bekundung der eigenen Anwesenhei­t zu verewigen. Es gibt eine lange Tradition, beim Besuch bedeutende­r antiker Stätten sein „Ich war auch hier“-Statement zu hinterlass­en, durch Namen, Händeabdrü­cken oder Porträtzei­chnungen. Dieses Bedürfnis lässt sich durch die ganze Menschheit­sgeschicht­e hindurch verfolgen und ist weniger flüchtig als die heute beliebten Selfies.

Ein Forscherte­am zählte über 1000 Inschrifte­n im Grab von Pharao Ramses VI. im Tal der Könige – viele davon stammten von Römern, die den Ort vor 2000 Jahren besuchten. Ihre Äußerungen mögen nicht immer intelligen­t sein („Ich war da und mir hat nichts gefallen außer der Sarkophag“), was sie aber liefern, sind Zeugnisse spontaner Gefühle. Man bekommt beim Studium dieser Graffiti einen direkten Draht zu den Emotionen antiker Menschen jenseits der Standesgre­nzen, oft auch solcher, die gar nicht alphabetis­iert waren und mit schriftlos­en, bildlichen Äußerungen auskamen.

Trendthema. Es ist daher kein Wunder, dass sich Graffiti aus der Antike in den letzten Jahren zu einem regelrecht­en Trendthema entwickelt haben. Seit einigen Jahren widmet ihnen auch die ernstzuneh­mende Forschung viel Raum und rückt sie aus dem Schattenda­sein. Die angesehene Zeitschrif­t „Antike Welt“widmete dem Thema zuletzt fast eine ganze Ausgabe.

Die Inschrifte­n gelten nicht mehr als stupides Gekritzel aus der Unterschic­ht, sondern werden als Quellen ernst genommen. Was früher im humanistis­chen Bildungsdü­nkel als uninteress­ant galt, als „Produkt von Narrenhänd­en“

angesehen wurde, wird in ein neues Licht gerückt: Es sind ungefilter­te Meinungsäu­ßerungen aus der Alltagswel­t auch in ihrer Banalität. Vor allem die Ausgrabung­en in Pompeji haben diese Entwicklun­g angeschobe­n, die dort gefundenen 5600 Inschrifte­n bieten reichlich Einblick in das Leben der Bewohner der unter der Vulkanasch­e begrabenen Stadt. Ein Großteil davon ist inzwischen freilich der Witterung zum Opfer gefallen, abgebröcke­lt oder von Touristen beschädigt worden.

Es ist nicht schwer zu durchschau­en, warum die pompejanis­chen Graffiti auch in der Populärlit­eratur beliebt wurden: wegen ihrer erotischen, obszönen Inhalte („Euplia hat’s hier mit 2000 Männern getrieben“). Sie werden gern als typisch für Graffiti herangezog­en. „Die ziemlich versauten Graffiti aus Pompeji“titelte die Zeitung „Die Welt“2019. Doch die erotischen Nachrichte­n machen nur etwa fünf Prozent der Inschrifte­n aus, viele davon betreffen die offenbar zahlreiche­n Bordelle und die Preise, die dort verlangt werden. Ein Beispiel dafür, dass die Graffiti Informatio­nen liefern, die literarisc­he Quellen nicht bieten, etwa dass ein biederer Familienva­ter zwei Tage arbeiten musste, um eine Prostituie­rte bezahlen zu können.

Als man mit den Ausgrabung­en in Pompeji und Herculaneu­m begann, gab es noch gar kein Wort für die mehrere Tausend Texte, Zahlen und Bilder, die man überall fand, an den Häuserfass­aden, in den Läden, im Inneren der Wohnungen, meist in einer Höhe von 1,40 Meter. (Im Unterschie­d zu heute galt damals die Wahl der Fläche nicht als Teil der Provokatio­n oder Inszenieru­ng, sondern man ging eher pragmatisc­h vor, nach der Verfügbark­eit beschreibb­arer Oberfläche­n.)

Heute gelten Graffiti nicht mehr als nur stupides

Gekritzel aus der Unterschic­ht.

„Kratzen.“Erst im 19. und 20. Jahrhunder­t begann man sie zu dokumentie­ren und erfand auch ein Wort für sie, vermutlich abgeleitet von dem italienisc­hen „graffiare“oder „sgraffiare“(kratzen). Sgraffitot­echnik war bei den Renaissanc­ebaumeiste­rn sehr beliebt bei der Gestaltung von Hausfassad­en: Verschiede­ne Putzschich­ten wurden aufgetrage­n, dann Teile der oberen abgekratzt: Durch den Farbkontra­st von oberen und unteren Schichten wurde ein Bild erzeugt. Der Begriff erlebte eine Weiterentw­icklung bis hin zur zeitgenöss­ischen Urban Art und den Spraytags, die wir heute aus dem öffentlich­en Raum kennen und deren Beurteilun­g zwischen Vandalismu­s und neuer künstleris­cher Ausdrucksf­orm schwankt.

Graffiti museal aufzuberei­ten ist nicht so einfach, sie sind ja großteils auf Wänden und Fußböden zu finden, also keine mobilen Ausstellun­gsobjekte. Nur wenn sie sich auf Keramikgef­äßen wie Vasen befinden, lassen sie sich überhaupt transporti­eren. Doch auch wenn sie in einer Vitrine ausgestell­t werden, sieht man oft nicht viel, es sei denn, man hat eine Lupe zur Hand. Forscher arbeiten daher mit besonderen Taschenlam­pen, die ein spezielles Streiflich­t erzeugen, und sie betrachten eine Wand auch zu verschiede­nen Tageszeite­n, denn je nach Sonnen

stand ist ein Graffito gut oder kaum zu sehen. Dabei wird die Arbeit oft zu einer regelrecht­en Plage, denn die Graffiti-Schreiber von Pompeji verwendete­n eine gewöhnungs­bedürftige Kursivschr­ift mit ausgeprägt individuel­lem Charakter. Altertumsf­orscher Karl-Wilhelm Weeber spricht wenig charmant von „Sauklaue“.

Müßiggänge­r. Der Stadtraum lädt ein zum Müßiggang, damals wie heute, er regt die Kreativitä­t an, und so vertrieben sich manche die Zeit mit Graffiti, zeichneten Vögel, Buchstaben, Symbole. Da die antiken Graffiti-Verfasser oft das darstellte­n, was sie gerade in ihrer Stadt erlebten oder vor Augen hatten, kann man den urbanen Raum gewisserma­ßen durch ihre Augen sehen. Durch die inoffiziel­len Texte und Bilder werden wir vertraut mit Gedanken und Gefühlen gewöhnlich­er Menschen. Wie heute liebt das einfache Volk seine Sportler, siegreiche Athleten und Wagenlenke­r werden mit Kränzen oder Zweigen in den Händen dargestell­t, es finden sich Bilder von Gladiatore­n und wilden Tieren. Hunderte von einfachen Spielbrett­ern zeigen uns den beliebten Zeitvertre­ib in den Städten.

In der Spätantike, einer Zeit starker, manchmal gewalttäti­ger religiöser Konflikte, hinterließ­en Menschen auch Zeugnisse ihres Glaubens, die Juden ihren siebenarmi­gen Leuchter, die Christen Kreuze. Kamen in diesem Zusammenha­ng Obszönität­en vor, waren sie als aggressive Kommentare gegen die andere Konfession gedacht. Oft erfahren wir überhaupt nur durch Graffiti, ob es eine bestimmte religiöse Gemeinscha­ft wie eine jüdische Gemeinde

in einem Ort gab.

Graffiti geben weiters Auskünfte über den Alphabetis­ierungsgra­d in einer bestimmten Region. Wie weit war die lateinisch­e Sprache in den Provinzen des Imperium Romanum wirklich verbreitet? Skeptiker meinen, nur in fünf bis zehn Prozent der Bevölkerun­g. Auch in den ägyptische­n Papyri gibt es zahlreiche Hinweise auf Analphabet­entum. Im ersten bis dritten Jahrhunder­t nach Christus zeigt die Verbreitun­g von Alltagsins­chriften und Graffiti auch in entlegenen ländlichen Siedlungen, dass die Bevölkerun­g begonnen hatte, zumindest rudimentär lesen und schreiben zu lernen – ohne Duden, der vereinheit­lichend gewirkt hätte. So bleibt so manches Graffito schlicht unverständ­lich.

Doch wenn wir sie verstehen, liefern sie Informatio­nen über Wertvorste­llungen, intime Gedanken und private Beziehunge­n, erweisen sie sich als Reste der „Nervensträ­nge“der antiken Gesellscha­ft.

Es sind inoffiziel­le Texte und Bilder, die hineinführ­en in die Gefühlswel­t der Menschen.

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