Im »Emirat« der Taliban brodelt es
In der Hand hält er einen Mini-Koran mit Goldschnitt. Rechts am Sessel lehnt eine Kalaschnikow. Der Talib mit Bart und Turban schiebt eigentlich Wache an der afghanischen Grenze zu Usbekistan. Aber er ist so versunken in die heilige Schrift, dass ihn die Ankommenden wenig kümmern. Er winkt sie müde weiter. Bei der Gepäckkontrolle herrscht dagegen ausgelassene Stimmung. Koffer und Rucksäcke werden scherzend durchwühlt. Danach gibt’s einen aufmunternden Klaps auf die Schulter, und es heißt: „Geht in Frieden!“
Die Ankunft im neuen „Emirat Afghanistan“ist weit unkomplizierter, als man es erwartet hat. An Checkpoints grüßen die Krieger überschwänglich freundlich und rufen: „Foto, Foto!“Bei jedem Bild mit den Ausländern aus dem Westen gackern die Taliban wie verspielte kleine Kinder. Man merkt an der sorglosen Ausgelassenheit: Sie sind am Ziel ihrer Wünsche angelangt. Nach 20 Jahren Kampf hat Amerika, ihr größter Feind, seine Truppen abgezogen und ihnen das Land überlassen. Die Taliban sind nun die neuen Herrscher Afghanistans und können es nach ihrer Fac¸on umkrempeln. Eine Regierung haben sie bereits gebildet. Die Geschlechtertrennung im öffentlichen Leben ist auf den Weg gebracht. Musik und Frauen sind mittlerweile aus Radio und Fernsehen verbannt. Viel scheint nicht mehr zu fehlen, bis das Ideal ihres Gottesstaats komplett ist.
Das Geld ist alle. Allerdings brodelt es an allen Ecken und Enden. Die ökonomische Krise spitzt sich zu und steigert den Frust im Volk. Es fehlt massiv an Geld. „Auf der Bank gibt es nur noch 20.000 Afghani (rund 200 Euro) im Monat. Da kann man keine Geschäfte machen“, beschwert sich Lebensmittelhändler Ahmas Rischad auf dem Markt der Grenzstadt Mazar-i-Sharif. „Vor den Taliban habe ich Waren im Wert von 5000 Dollar in einer Woche verkauft. Heute sind es weniger als 500 Dollar.“
In vielen Orten wollen die Proteste von Frauen nicht enden, die sich gegen Schleier und ihre neue häusliche Rolle wehren. Auch sonst gibt es jede Menge
Dissidenten. „Die Taliban versprechen das Blaue vom Himmel, nämlich einen moderaten Islam“, sagt Journalist Said Mohammed Ashemi im Zentrum von Mazar-i-Sharif. „Man darf ihnen nicht glauben.“Ashemi schrieb für die Website des mittlerweile geflohenen Präsidenten Ashraf Ghani und ist nunmehr selbst auf der Flucht. „Ich bleibe höchstens einen Tag am selben Ort“, erklärt Ashemi mit einem Mundschutz vor dem Gesicht.
Die begehrten Jobs sind weg. Zu den Kritikern des neuen Regimes zählen auch ehemalige Mitarbeiter der fremden Interventionsstreitkräfte. Die Ortskräfte haben nicht nur ihren Job lieben gelernt, sondern vielfach auch westliche Liberalität. Von ihnen konnte nur eine Minderheit mit Flugzeugen in Sicherheit und Freiheit fliegen. Tausende ExMitarbeiter der fremden Truppen und NGOs harren im Land aus, dürften mit ihren Familien in Angst und Schrecken vor den Taliban leben. Darunter sind auch viele, die jahrelang für die deutsche Bundeswehr geschuftet haben. Sie bauten Wohnungen für Soldaten, kochten, wuschen Wäsche und reparierten Fahrzeuge. Sie hielten den Einsatz der Bundeswehr letztlich am Laufen.
„Ich habe 90 Prozent aller Wohnungscontainer der Deutschen im Camp Marmal zusammengebaut“, erzählt Rahmanullah. „Die Unterkunft eines einfachen Soldaten war 2,40 Meter mal sechs Meter groß. Die von Offizieren war dreimal so groß.“
Der 38-Jährige hat zehn Jahre für die Deutschen gearbeitet und war Chef des 16-köpfigen Teams des dortigen Containerwohnungsbaus. „Oskar“nannten ihn die Deutschen. Der afghanische Oskar hatte ein besonders gutes
Verhältnis zu Hans, dem Elektriker der Bundeswehr, und zu Kranführer Peter. „Als ihre Dienstzeit ablief und sie zurück nach Deutschland mussten, haben sie geweint“, erinnert sich Rahmanullah wehmütig. „Heute ist meine Schulter kaputt von den vielen Sandsäcken, die wir auf die Dächer der Container gelegt haben“, sagt er und deutet auf seine rechte Schulter. „Am Ende haben sie uns einfach zurückgelassen.“Rahmanullah wäre am liebsten mit einem der Flugzeuge der Deutschen ausgeflogen. „Aber niemand hat mich kontaktiert“, sagt er betrübt. „Niemand wollte mir Papiere geben.“Als Vorsichtsmaßnahme ist er aus seiner Wohnung ausgezogen. Jederzeit könnten ihn die Taliban als Kollaborateur verhaften.
Ähnlich erging es Hamidull. Er schuftete acht Jahre in der Wäscherei der Bundeswehr. „Wir hatten rund 1200 Waschmaschinen, um jeden Tag Uniformen, Hemden, T-Shirts und Unterwäsche zu waschen und zu trocknen“, erzählt der 29-Jährige. „Aber zum Bügeln war das zu viel“, ergänzt er. „Das taten wir nur für hohe Offiziere.“
Alfred Hackensberger, Korrespondent der »Presse am Sonntag«, mit Taliban nach der Einreise aus Usbekistan im Grenzort Termez.
Hamidull wäre ebenfalls gern in einem Flugzeug nach Deutschland gesessen. „Aber niemand kümmerte sich um mich“, sagt er und liefert eine mögliche Erklärung: „Ich war nicht direkt von den Deutschen angestellt, sondern von einem Unternehmen aus Mazedonien, das die Bundeswehr beauftragt hatte.“Deshalb habe man ihm wahrscheinlich Ausreisepapiere verweigert. Hamidull fühlt sich im Stich gelassen. Sein Leben ist in Gefahr.
Die Islamisten versprechen nach der Machtübernahme in Afghanistan das Blaue vom Himmel. Das Volk bleibt skeptisch. Reportage aus Mazar-i-Sharif.
Taliban im deutschen Lager. Bei der Firma aus Mazedonien hatte er 900 Kollegen, die wie er bis zum Schluss auf der Basis arbeiteten. Auch sie konnten nicht ausreisen, sagt er. Hamidull hat eine dicke Akte mitgebracht voller Auszeichnungen und Dankschreiben aus seiner Arbeitszeit im Camp Mamal. Darunter ist eine Urkunde mit der Unterschrift von Generalmajor Hartmut Renk, dem Kommandeur der Hilfstruppe Train Advise Assist Command North (TAAC) von 2015 bis 2016 in Afghanistan. Davon hat Hamidull heute wenig. Er fühlt sich verraten.
Camp Mamal liegt etwa 20 Fahrminuten außerhalb von Mazar-i-Sharif. Die Basis steht heute noch so, wie sie die Bundeswehr im Juni verlassen hat. Kilometerlange Zäune mit Stacheldraht, Mauern, Wachtürmen, Lagerhallen, Start- und Landebahnen. Heute bewachen langhaarige Taliban das Militärgelände. „Die Deutschen haben alles zurückgelassen“, sagt der übergewichtige Kommandant mit Sturmgewehr in der
An Checkpoints grüßen die Krieger überschwänglich und rufen: »Foto, Foto!« »Die Deutschen sind gute Menschen. Und ohne sie hat das Camp keine Seele.«
Hand auf einem ausrangierten roten Sofa vor dem Haupttor. „Fahrzeuge, Munition und etliches mehr“. Er grinst über das ganze Gesicht. Keine 100 Meter links hängt ein Schild an einem der Lichtmasten. „Die deutsche Regierung sollte das Leben ihrer ehemaligen Mitarbeiter nicht ignorieren“, steht darauf eingerahmt in Schwarz-Rot-Gold.
„Die haben immer aufgeräumt.“„Man soll niemanden zurücklassen“, sagt Rahmanullah verbittert. Bei der Fahrt entlang des Camps wird er sentimental. Er erzählt von den Lagerhallen für Benzin, vom Containerbereich für Gäste, dem Verladeplatz mit Kran und Straßen, die von der Bundeswehr neu gebaut wurden. „Sehen Sie, jetzt liegt überall Müll“, schimpft er, und zeigt auf die Grasflächen zwischen Zaun und erster Schutzmauer. „Bei den Deutschen gab’s das nicht, die haben immer aufgeräumt.“
Hamidull würde am liebsten wieder an seinen Arbeitsplatz im Camp zurückkehren. „Aber nur, wenn die Deutschen wieder hier sind“, betont er. „Sie sind gute Menschen. Und ohne sie hat das Camp keine Seele.“