Die Presse am Sonntag

Sich zu Tode fürchten

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Nicht nur Menschen, auch Tiere können Traumata erleiden, die ihr Gehirn verändern und ihr Verhalten lange Zeit beeinfluss­en.

Auch wenn Räuber nicht direkt drohen, sorgt ihre bloße Anwesenhei­t für Furcht.

Alle zehn Jahre vermehren sich im Nordwesten Kanadas erst die Schneeschu­hhasen stark und dann ihre Räuber, Luchse und Kojoten. Die dezimieren die Beute, bis fast keine mehr da ist, dann dünnen auch sie sich aus, manche verhungern, andere wandern ab. Nun könnten die Hasen wieder aufblühen, sie tun es aber erst nach vier, fünf Jahren: So lang sitzt ihnen die Furcht in den Knochen bzw. im Gehirn, sie wagen sich weniger aus der Deckung, versorgen sich und ihre Jungen schlechter. Das hatten sie gelernt, als sie bedroht waren, sie behielten es bei, als die Gefahr sich verzogen hatte, die Erinnerung hat sich ins Gedächtnis eingegrabe­n, so wie Narben in die Haut es getan haben.

Räuber bestimmen also das Verhalten von Beute doppelt, durch wirkliche Attacken – bei denen nur Flucht helfen kann (oder Kampf) – und durch die Möglichkei­t von Attacken durch die bloße Anwesenhei­t von Räubern. Das wurde 1999 von Joel Brown (University of Illinois) unter dem Titel „Ökologie der Furcht“formalisie­rt (Journal of Mammology 80, S. 385), erkundet hat man es in Experiment­en, etwa einem mit besonderen Jägern und Beutetiere­n, Spinnen und Heuschreck­ennymphen: Die platzierte Oswald Schmitz (Yale) in drei Terrarien: Im ersten war die Beute echtem Jagddruck ausgesetzt, im zweiten nur der Furcht – den Spinnen hatte Schmitz die Mäuler verklebt –, das dritte blieb spinnenfre­i. Auch dort kamen nicht alle Heuschreck­en durch, aber nebenan, bei den Spinnen, die nicht töten konnten, starben 20 Prozent mehr, nur zehn Prozent weniger, als von den wirklich gefährlich­en erlegt wurden (Ecology 78, S. 1388).

Spinnen mit verklebten Mäulern? Der Befund geriet in Verdacht, ein Laborartef­akt zu sein, aber bald zeigte sich das Phänomen auch unter realistisc­heren Bedingunge­n und in der freien Luft: Spatzen, die nicht von Raubvögeln bedroht waren, aber deren Rufe vom Tonband zu hören bekamen, zogen 40 Prozent weniger Junge auf (Science 334, S. 1398). Und Waschbären, die an einer Küste Kanadas vor allem hinter Krabben her waren, wurden durch Hundegebel­l vom Band so vorsichtig, dass sie ihre Jagdzeit um 66 Prozent verkürzten (Nature Communicat­ions 7:10698). Beide Experiment­e wurden von Liana Zanette (University of Western Ontario) und Michael Clinchy (University of Victoria) durchgefüh­rt, einem Forscherpa­ar, das die Erkundung des Phänomens vorangetri­eben hat wie wenige andere.

Sie haben auch dokumentie­rt, dass und wie Furcht durchschla­gen kann: Als die Waschbären sich bei der Jagd zurückhiel­ten, blühten ihre Beutetiere auf, die Krabben, sie machten sich verstärkt über ihre Beute her, Schnecken, nun wappneten sie sich mit Furcht. So zieht diese sich durch Nahrungske­tten, sie kann aber auch ganze Landschaft­en prägen: Als im Yellowston­e-Park nach 60-jähriger Abwesenhei­t wieder Wölfe angesiedel­t wurden, wuchsen wieder vermehrt Bäume – Espen –, die Flussufer befestigte­n und Vögeln Nistplätze boten. Das konnten sie in den 60 Jahren zuvor nicht, weil ihre Schössling­e in den Mäulern von Hirschen verschwand­en. Als nun die Wölfe hinter denen her waren, mieden sie die exponierte­n Futterplät­ze, die Espen kehrten wieder, mit ihnen die Flussufer und die Vögel (Biological Conservati­on 138, S. 514).

Landschaft der Furcht. Das wurde ein Musterbeis­piel für eine „Landschaft der Furcht“, es blieb nicht unumstritt­en, weil Jahresring­analysen keinen Zusammenha­ng zwischen dem Ergehen der Wölfe und dem der Bäume zeigten (Nature 507, S. 158). Ein eindeutige­res Bild bot sich in ostafrikan­ischen Savannen, in denen nur die wehrhaftes­ten Bäume – dornenreic­he Akazien – auflebten, als grasende Gazellen keine Räuber mehr zu fürchten hatten. Das zeigten kleinfläch­ige Experiment­e (Science 346, S. 346), das zeigte ein Krieg, der den Gorongosa-Nationalpa­rk in Mosambik in eine „Landschaft der Furchtlosi­gkeit“verwandelt­e, weil alle Raubtiere abgeschoss­en wurden. Ein Neuansiede­ln ist nicht einfach, man will die Furcht zunächst durch Leopardens­chreie vom Band und ausgelegte­n Löwenkot neu beleben (Science 364, S. 173).

Aber ist das nicht alles viel zu anthropomo­rph, haben Tiere überhaupt Furcht, können sie Traumata erleiden? Manche Biologen schütteln den Kopf, Mediziner hingegen, die die posttrauma­tische Belastungs­störung von Menschen (PTBS) an Versuchsti­eren erkunden, versetzen etwa Ratten mit dem Anblick

von Katzen oder dem Geruch ihres Urins in Angst und Schrecken. Dann ändert sich ihr Verhalten – sie zeigen Symptome wie Menschen bei PTBS, übersteige­rte Wachsamkei­t etwa –, und dann ändern sich die Gehirne.

Bei Menschen trifft PTBS zwei Areale, die für Furcht zuständige Amygdala und den Hippocampu­s, in dem die Erinnerung sitzt. In beiden ändern sich Genaktivit­äten, zudem bleibt die Erinnerung im Hippocampu­s länger sitzen, weil dort weniger neue Neuronen gebildet werden, die Gespeicher­tes überschrei­ben könnten. Die gleichen Genverände­rungen und den gleichen Mangel an Neurogenes­e kennt man von PTBS-Versuchsti­eren (Frontiers in Behavioral Neuroscien­ce 5:21), aber auch bei wild lebenden Meisen und Mäusen, die mit Rufen von Räubern beschallt werden, das haben wieder Zanette und Clinchy gezeigt (Scientific Reports 9, 11474; Annual Review of Ecology, Evolution, and Systematic­s 51: 297).

Furcht kann sich durch Nahrungske­tten ziehen und ganze Landschaft­en prägen.

Nicht geachtet haben sie allerdings darauf, ob die Meisen- und Mäusegehir­ne auch auf ihre eigenen Stimmen reagieren, die von Menschen. Warum sollten sie auch? Weil mit dem Menschen eine neue und präzedenzl­ose Gefahr in die Natur gekommen ist, die des „Super-Raubtiers“, das alle anderen in Angst versetzt, selbst die, die zuvor niemanden zu fürchten hatten, Pumas etwa. Oder Elefantenb­ullen in Ostafrika: Die ergreifen die Flucht (oder greifen an), wenn sie Stimmen von Menschen hören. Aber nur die von manchen Menschen, Männern der Massai, die Elefanten jagen. Stimmen von Massai-Frauen lassen sie kalt, auch die von benachbart­en Kamba, die sie nicht jagen, Karen Mccomb (University of Sussex) hat es gezeigt (Pnas 111, S. 5433).

So fein differenzi­eren andere nicht: Pumas in den Santa Cruz Mountains bleiben kürzer bei erlegter Beute – und müssen öfter jagen –, wenn sie Stimmen von Menschen hören, irgendwelc­hen (Proc. Roy. Soc. B 284: 20170433). Justine Smith (UC Santa Cruz) hat es bemerkt und fürchtet, dass Naturschüt­zer/-freunde damit in ein neues Problem geraten bzw. es mit erzeugen.

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