Sich zu Tode fürchten
Nicht nur Menschen, auch Tiere können Traumata erleiden, die ihr Gehirn verändern und ihr Verhalten lange Zeit beeinflussen.
Auch wenn Räuber nicht direkt drohen, sorgt ihre bloße Anwesenheit für Furcht.
Alle zehn Jahre vermehren sich im Nordwesten Kanadas erst die Schneeschuhhasen stark und dann ihre Räuber, Luchse und Kojoten. Die dezimieren die Beute, bis fast keine mehr da ist, dann dünnen auch sie sich aus, manche verhungern, andere wandern ab. Nun könnten die Hasen wieder aufblühen, sie tun es aber erst nach vier, fünf Jahren: So lang sitzt ihnen die Furcht in den Knochen bzw. im Gehirn, sie wagen sich weniger aus der Deckung, versorgen sich und ihre Jungen schlechter. Das hatten sie gelernt, als sie bedroht waren, sie behielten es bei, als die Gefahr sich verzogen hatte, die Erinnerung hat sich ins Gedächtnis eingegraben, so wie Narben in die Haut es getan haben.
Räuber bestimmen also das Verhalten von Beute doppelt, durch wirkliche Attacken – bei denen nur Flucht helfen kann (oder Kampf) – und durch die Möglichkeit von Attacken durch die bloße Anwesenheit von Räubern. Das wurde 1999 von Joel Brown (University of Illinois) unter dem Titel „Ökologie der Furcht“formalisiert (Journal of Mammology 80, S. 385), erkundet hat man es in Experimenten, etwa einem mit besonderen Jägern und Beutetieren, Spinnen und Heuschreckennymphen: Die platzierte Oswald Schmitz (Yale) in drei Terrarien: Im ersten war die Beute echtem Jagddruck ausgesetzt, im zweiten nur der Furcht – den Spinnen hatte Schmitz die Mäuler verklebt –, das dritte blieb spinnenfrei. Auch dort kamen nicht alle Heuschrecken durch, aber nebenan, bei den Spinnen, die nicht töten konnten, starben 20 Prozent mehr, nur zehn Prozent weniger, als von den wirklich gefährlichen erlegt wurden (Ecology 78, S. 1388).
Spinnen mit verklebten Mäulern? Der Befund geriet in Verdacht, ein Laborartefakt zu sein, aber bald zeigte sich das Phänomen auch unter realistischeren Bedingungen und in der freien Luft: Spatzen, die nicht von Raubvögeln bedroht waren, aber deren Rufe vom Tonband zu hören bekamen, zogen 40 Prozent weniger Junge auf (Science 334, S. 1398). Und Waschbären, die an einer Küste Kanadas vor allem hinter Krabben her waren, wurden durch Hundegebell vom Band so vorsichtig, dass sie ihre Jagdzeit um 66 Prozent verkürzten (Nature Communications 7:10698). Beide Experimente wurden von Liana Zanette (University of Western Ontario) und Michael Clinchy (University of Victoria) durchgeführt, einem Forscherpaar, das die Erkundung des Phänomens vorangetrieben hat wie wenige andere.
Sie haben auch dokumentiert, dass und wie Furcht durchschlagen kann: Als die Waschbären sich bei der Jagd zurückhielten, blühten ihre Beutetiere auf, die Krabben, sie machten sich verstärkt über ihre Beute her, Schnecken, nun wappneten sie sich mit Furcht. So zieht diese sich durch Nahrungsketten, sie kann aber auch ganze Landschaften prägen: Als im Yellowstone-Park nach 60-jähriger Abwesenheit wieder Wölfe angesiedelt wurden, wuchsen wieder vermehrt Bäume – Espen –, die Flussufer befestigten und Vögeln Nistplätze boten. Das konnten sie in den 60 Jahren zuvor nicht, weil ihre Schösslinge in den Mäulern von Hirschen verschwanden. Als nun die Wölfe hinter denen her waren, mieden sie die exponierten Futterplätze, die Espen kehrten wieder, mit ihnen die Flussufer und die Vögel (Biological Conservation 138, S. 514).
Landschaft der Furcht. Das wurde ein Musterbeispiel für eine „Landschaft der Furcht“, es blieb nicht unumstritten, weil Jahresringanalysen keinen Zusammenhang zwischen dem Ergehen der Wölfe und dem der Bäume zeigten (Nature 507, S. 158). Ein eindeutigeres Bild bot sich in ostafrikanischen Savannen, in denen nur die wehrhaftesten Bäume – dornenreiche Akazien – auflebten, als grasende Gazellen keine Räuber mehr zu fürchten hatten. Das zeigten kleinflächige Experimente (Science 346, S. 346), das zeigte ein Krieg, der den Gorongosa-Nationalpark in Mosambik in eine „Landschaft der Furchtlosigkeit“verwandelte, weil alle Raubtiere abgeschossen wurden. Ein Neuansiedeln ist nicht einfach, man will die Furcht zunächst durch Leopardenschreie vom Band und ausgelegten Löwenkot neu beleben (Science 364, S. 173).
Aber ist das nicht alles viel zu anthropomorph, haben Tiere überhaupt Furcht, können sie Traumata erleiden? Manche Biologen schütteln den Kopf, Mediziner hingegen, die die posttraumatische Belastungsstörung von Menschen (PTBS) an Versuchstieren erkunden, versetzen etwa Ratten mit dem Anblick
von Katzen oder dem Geruch ihres Urins in Angst und Schrecken. Dann ändert sich ihr Verhalten – sie zeigen Symptome wie Menschen bei PTBS, übersteigerte Wachsamkeit etwa –, und dann ändern sich die Gehirne.
Bei Menschen trifft PTBS zwei Areale, die für Furcht zuständige Amygdala und den Hippocampus, in dem die Erinnerung sitzt. In beiden ändern sich Genaktivitäten, zudem bleibt die Erinnerung im Hippocampus länger sitzen, weil dort weniger neue Neuronen gebildet werden, die Gespeichertes überschreiben könnten. Die gleichen Genveränderungen und den gleichen Mangel an Neurogenese kennt man von PTBS-Versuchstieren (Frontiers in Behavioral Neuroscience 5:21), aber auch bei wild lebenden Meisen und Mäusen, die mit Rufen von Räubern beschallt werden, das haben wieder Zanette und Clinchy gezeigt (Scientific Reports 9, 11474; Annual Review of Ecology, Evolution, and Systematics 51: 297).
Furcht kann sich durch Nahrungsketten ziehen und ganze Landschaften prägen.
Nicht geachtet haben sie allerdings darauf, ob die Meisen- und Mäusegehirne auch auf ihre eigenen Stimmen reagieren, die von Menschen. Warum sollten sie auch? Weil mit dem Menschen eine neue und präzedenzlose Gefahr in die Natur gekommen ist, die des „Super-Raubtiers“, das alle anderen in Angst versetzt, selbst die, die zuvor niemanden zu fürchten hatten, Pumas etwa. Oder Elefantenbullen in Ostafrika: Die ergreifen die Flucht (oder greifen an), wenn sie Stimmen von Menschen hören. Aber nur die von manchen Menschen, Männern der Massai, die Elefanten jagen. Stimmen von Massai-Frauen lassen sie kalt, auch die von benachbarten Kamba, die sie nicht jagen, Karen Mccomb (University of Sussex) hat es gezeigt (Pnas 111, S. 5433).
So fein differenzieren andere nicht: Pumas in den Santa Cruz Mountains bleiben kürzer bei erlegter Beute – und müssen öfter jagen –, wenn sie Stimmen von Menschen hören, irgendwelchen (Proc. Roy. Soc. B 284: 20170433). Justine Smith (UC Santa Cruz) hat es bemerkt und fürchtet, dass Naturschützer/-freunde damit in ein neues Problem geraten bzw. es mit erzeugen.