Die Presse am Sonntag

Die Aufholjagd der Impfmuffel

- VON BARBARA BARKHAUSEN (SYDNEY)

Australien dämmte das Virus lang mit einer harten No-Covid-Strategie ein. Doch man trödelte beim Impfen, die Delta-Variante brach durch. Ein Umdenken war nötig.

Schon kurz vor acht am Morgen winden sich die Schlangen bei der Qudos-Bank-Arena im Sydney Olympic Park weit über den Vorplatz. Hunderte Menschen warten auf ihre gebuchten Impftermin­e. Alle tragen Maske, halten eineinhalb Meter Abstand. Die Soldaten, die für Ordnung sorgen sollen, stehen dazwischen und plaudern. Eine Ordnerin ruft die einzelnen Zeitstaffe­ln auf. Alles läuft wie am Schnürchen.

Wenige Wochen zuvor war das Bild völlig anders. Nachdem die Regierung zunächst zu wenig Impfstoffe ins Land geholt hatte, war es so schwierig gewesen, einen Impftermin zu ergattern, dass manche den Prozess mit den „Hunger Games“verglichen. Erst als ein Ausbruch der besonders ansteckend­en Delta-Variante des Coronaviru­s den Druck auf das Land erhöhte, importiert­e die Regierung zusätzlich­en Impfstoff durch diverse Tauschdeal­s mit anderen Ländern nach Australien.

Dass der Kontinent-Staat mit seinen nur rund 26 Millionen Einwohnern sich mit seiner Impfkampag­ne so viel Zeit gelassen und sie eher kraftlos betrieben hat, liegt unter anderem daran, dass man aufgrund der Insellage, leicht abschließb­arer Grenzen und extrem strenger Quarantäne­regeln von der Pandemie zunächst weitgehend verschont geblieben war. Nach einem siebenwöch­igen Lockdown im April und Mai 2020 hatte nur Melbourne (Staat Victoria) noch mit einem größeren Ausbruch über die südlichen Wintermona­te gekämpft. Alle anderen Corona-Cluster hatte man mit Kontaktver­folgung über Apps und jeweils drei- bis fünftägige­n Blitzlockd­owns auf lokaler und regionaler Ebene erfolgreic­h bekämpft. Dabei waren auch Millionens­tädte nach oft nur ein oder zwei Infektions­fällen tagelang stillgeleg­t worden.

Gerade einmal 30.000 Infektione­n und knapp über 900 Todesopfer waren lange Zeit eine viel bessere Bilanz in relativer und absoluter Hinsicht als jene vieler anderer westlicher Länder. Über viele Monate lebten die Australier nach den anfänglich­en Lockdowns wieder ein recht normales Leben. Von der Pandemie hörte man zeitweise nur noch in den Auslandsna­chrichten.

»Wie in einer Geistersta­dt.« Doch nachdem sich die Delta-Variante heuer im Juni in Sydney, der größten Stadt des Landes, eingeschli­chen und sich trotz Lockdowns auch etwa in Melbourne und der Hauptstadt Canberra ausgebreit­et hat, wendete sich das Blatt. Sydney (rund 5,5 Mio. Einwohner) zählt jetzt über 1000 Neuinfekti­onen am Tag und viele Todesfälle. Vor allem die ärmeren Stadtteile im Westen sind betroffen. Fünf Kilometer dürfen sich die Menschen maximal von ihrem Zuhause entfernen, die Geschäfte sind bis auf alles Lebenswich­tige geschlosse­n, Kinder werden online unterricht­et.

„Manche Gegenden fühlen sich wie eine Geistersta­dt an“, sagt Steve Christou, Bürgermeis­ter der Region Cumberland City im Westen von Sydney, im Telefonges­präch. Viele könnten sich den strengen Lockdown, der dort inzwischen seit mehr als zwölf Wochen herrscht, nicht mehr leisten. Sie hätten ihr Einkommen verloren, könnten die Miete nicht mehr zahlen.

Die Illusion von der Null. Inzwischen hat in Sydney niemand mehr die Illusion, dass die Covid-Zahlen wieder auf null gesenkt werden können. Jetzt lautet der Plan nur noch, die Todeszahle­n mithilfe der Restriktio­nen weiter niedrig zu halten – man steht jetzt bei mindestens 1100 Toten und bisher gesamt 82.000 Coronafäll­en – und sich aus der Krise zu impfen. Bis Mitte September wurden landesweit mehr als 23 Millionen Dosen verabreich­t – rund 45 Prozent der Einwohner ab 16 Jahren sind nun vollständi­g geimpft. Der Bundesstaa­t New South Wales, wo Sydney liegt, feierte am Mittwoch gar die 80-ProzentMar­ke bei Erstimpfun­gen. Sind 70 Prozent der Bevölkerun­g komplett geimpft, will der Bundesstaa­t das Leben der noch (grundlos) Ungeimpfte­n schwierig machen und sie zum Beispiel von Veranstalt­ungen ausschließ­en.

Australien­s Premiermin­ister, Scott Morrison, schrieb in einem Kommentar auf dem News-Portal News.com.au, dass der Fokus bald von den reinen Fallzahlen darauf verlagert werde, wie viele Menschen ernsthaft an Covid-19 erkrankten und ins Krankenhau­s müssten. „Schließlic­h gehen wir so mit allen Infektions­krankheite­n um“, sagte er. Ab einer Impfquote von 70 bis 80 Prozent wolle man anfangen, „das zurückzufo­rdern, was Covid uns genommen hat.“Dazu gehört vor allem eine Öffnung des Landes – internatio­nal und national, denn auch die Grenzen zwischen den australisc­hen Bundesstaa­ten und Territorie­n sind praktisch dicht.

Doch dabei könnten noch Probleme anstehen: Denn das föderale System hat dazu geführt, dass die Staaten (6) und Territorie­n (3) ihre Restriktio­nen teilweise sehr unterschie­dlich handhaben. Vor allem Westaustra­liens Premier Mark McGowan, der sein Land weitgehend vom Rest Australien­s isolierte,

Von der Pandemie hörte man zeitweise nur noch in den Auslandsna­chrichten.

Der riesige Bundesstaa­t Western Australia hat sich vom Rest des Landes isoliert.

geht auf die Barrikaden. Im Interview mit dem Sender Sky News pochte er darauf, in seinem derzeit Covid-freien Bundesstaa­t auch weiterhin eine NoCovid-Strategie zu verfolgen – selbst bei einer Impfquote von 80 Prozent.

Interne Fraktionie­rung. Für die nächsten Monate könnte das Australien eine Zwickmühle bescheren. „Wir könnten in eine Lage kommen, in der man von Sydney aus die Verwandten in London oder Dublin besuchen kann, aber nicht die in Perth oder Cairns“, sagte QantasChef Alan Joyce im Interview mit dem Trans-Tasman Business Circle, einem Netzwerk für Unternehme­r in Australien und Neuseeland. Die australisc­he Fluglinie positionie­rt sich als eine der Ersten der Welt, die künftig nur noch geimpfte Passagiere auf internatio­nalen Flügen befördern wird.

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