Die Aufholjagd der Impfmuffel
Australien dämmte das Virus lang mit einer harten No-Covid-Strategie ein. Doch man trödelte beim Impfen, die Delta-Variante brach durch. Ein Umdenken war nötig.
Schon kurz vor acht am Morgen winden sich die Schlangen bei der Qudos-Bank-Arena im Sydney Olympic Park weit über den Vorplatz. Hunderte Menschen warten auf ihre gebuchten Impftermine. Alle tragen Maske, halten eineinhalb Meter Abstand. Die Soldaten, die für Ordnung sorgen sollen, stehen dazwischen und plaudern. Eine Ordnerin ruft die einzelnen Zeitstaffeln auf. Alles läuft wie am Schnürchen.
Wenige Wochen zuvor war das Bild völlig anders. Nachdem die Regierung zunächst zu wenig Impfstoffe ins Land geholt hatte, war es so schwierig gewesen, einen Impftermin zu ergattern, dass manche den Prozess mit den „Hunger Games“verglichen. Erst als ein Ausbruch der besonders ansteckenden Delta-Variante des Coronavirus den Druck auf das Land erhöhte, importierte die Regierung zusätzlichen Impfstoff durch diverse Tauschdeals mit anderen Ländern nach Australien.
Dass der Kontinent-Staat mit seinen nur rund 26 Millionen Einwohnern sich mit seiner Impfkampagne so viel Zeit gelassen und sie eher kraftlos betrieben hat, liegt unter anderem daran, dass man aufgrund der Insellage, leicht abschließbarer Grenzen und extrem strenger Quarantäneregeln von der Pandemie zunächst weitgehend verschont geblieben war. Nach einem siebenwöchigen Lockdown im April und Mai 2020 hatte nur Melbourne (Staat Victoria) noch mit einem größeren Ausbruch über die südlichen Wintermonate gekämpft. Alle anderen Corona-Cluster hatte man mit Kontaktverfolgung über Apps und jeweils drei- bis fünftägigen Blitzlockdowns auf lokaler und regionaler Ebene erfolgreich bekämpft. Dabei waren auch Millionenstädte nach oft nur ein oder zwei Infektionsfällen tagelang stillgelegt worden.
Gerade einmal 30.000 Infektionen und knapp über 900 Todesopfer waren lange Zeit eine viel bessere Bilanz in relativer und absoluter Hinsicht als jene vieler anderer westlicher Länder. Über viele Monate lebten die Australier nach den anfänglichen Lockdowns wieder ein recht normales Leben. Von der Pandemie hörte man zeitweise nur noch in den Auslandsnachrichten.
»Wie in einer Geisterstadt.« Doch nachdem sich die Delta-Variante heuer im Juni in Sydney, der größten Stadt des Landes, eingeschlichen und sich trotz Lockdowns auch etwa in Melbourne und der Hauptstadt Canberra ausgebreitet hat, wendete sich das Blatt. Sydney (rund 5,5 Mio. Einwohner) zählt jetzt über 1000 Neuinfektionen am Tag und viele Todesfälle. Vor allem die ärmeren Stadtteile im Westen sind betroffen. Fünf Kilometer dürfen sich die Menschen maximal von ihrem Zuhause entfernen, die Geschäfte sind bis auf alles Lebenswichtige geschlossen, Kinder werden online unterrichtet.
„Manche Gegenden fühlen sich wie eine Geisterstadt an“, sagt Steve Christou, Bürgermeister der Region Cumberland City im Westen von Sydney, im Telefongespräch. Viele könnten sich den strengen Lockdown, der dort inzwischen seit mehr als zwölf Wochen herrscht, nicht mehr leisten. Sie hätten ihr Einkommen verloren, könnten die Miete nicht mehr zahlen.
Die Illusion von der Null. Inzwischen hat in Sydney niemand mehr die Illusion, dass die Covid-Zahlen wieder auf null gesenkt werden können. Jetzt lautet der Plan nur noch, die Todeszahlen mithilfe der Restriktionen weiter niedrig zu halten – man steht jetzt bei mindestens 1100 Toten und bisher gesamt 82.000 Coronafällen – und sich aus der Krise zu impfen. Bis Mitte September wurden landesweit mehr als 23 Millionen Dosen verabreicht – rund 45 Prozent der Einwohner ab 16 Jahren sind nun vollständig geimpft. Der Bundesstaat New South Wales, wo Sydney liegt, feierte am Mittwoch gar die 80-ProzentMarke bei Erstimpfungen. Sind 70 Prozent der Bevölkerung komplett geimpft, will der Bundesstaat das Leben der noch (grundlos) Ungeimpften schwierig machen und sie zum Beispiel von Veranstaltungen ausschließen.
Australiens Premierminister, Scott Morrison, schrieb in einem Kommentar auf dem News-Portal News.com.au, dass der Fokus bald von den reinen Fallzahlen darauf verlagert werde, wie viele Menschen ernsthaft an Covid-19 erkrankten und ins Krankenhaus müssten. „Schließlich gehen wir so mit allen Infektionskrankheiten um“, sagte er. Ab einer Impfquote von 70 bis 80 Prozent wolle man anfangen, „das zurückzufordern, was Covid uns genommen hat.“Dazu gehört vor allem eine Öffnung des Landes – international und national, denn auch die Grenzen zwischen den australischen Bundesstaaten und Territorien sind praktisch dicht.
Doch dabei könnten noch Probleme anstehen: Denn das föderale System hat dazu geführt, dass die Staaten (6) und Territorien (3) ihre Restriktionen teilweise sehr unterschiedlich handhaben. Vor allem Westaustraliens Premier Mark McGowan, der sein Land weitgehend vom Rest Australiens isolierte,
Von der Pandemie hörte man zeitweise nur noch in den Auslandsnachrichten.
Der riesige Bundesstaat Western Australia hat sich vom Rest des Landes isoliert.
geht auf die Barrikaden. Im Interview mit dem Sender Sky News pochte er darauf, in seinem derzeit Covid-freien Bundesstaat auch weiterhin eine NoCovid-Strategie zu verfolgen – selbst bei einer Impfquote von 80 Prozent.
Interne Fraktionierung. Für die nächsten Monate könnte das Australien eine Zwickmühle bescheren. „Wir könnten in eine Lage kommen, in der man von Sydney aus die Verwandten in London oder Dublin besuchen kann, aber nicht die in Perth oder Cairns“, sagte QantasChef Alan Joyce im Interview mit dem Trans-Tasman Business Circle, einem Netzwerk für Unternehmer in Australien und Neuseeland. Die australische Fluglinie positioniert sich als eine der Ersten der Welt, die künftig nur noch geimpfte Passagiere auf internationalen Flügen befördern wird.