Die Presse am Sonntag

So kann das gehen: sich erinnern

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Kulturerbe. Monika Helfer hat gleich zwei bestechend schöne Romane über ihre Familie geschriebe­n. Der erste war zauberhaft. Der neue ist skrupulös.

Sie hat gewartet. Sie wusste, dass sie schreiben wollte, über ihre „Bagage“, die auch dem vorigen Band den Titel lieh, über ihre Großmutter und ihren Großvater, die in einem armen Vorarlberg­er Bergdorf zu den Ärmsten gehörten, zu denen am Rande des Ortes, auf der Schattseit­e. Sie hat es lang nicht getan, weil sie niemanden kränken wollte, sie hat gewartet, das Ergebnis war ein Buch, das fast märchenhaf­t anmutete, brutal und doch schön, und das wohl mehr Leser und Leserinnen fand als jeder andere Band von Monika Helfer, wohl auch mehr als „Oskar und Lilli“, mit dem sie 1994 ihr Publikum begeistert­e und der 2020 unter dem Titel „Ein bisschen bleiben wir noch“verfilmt wurde.

Als „Bagage“erschienen war, wusste sie, dass die Geschichte nicht fertig erzählt war. Da gab es so viele Onkel und Tanten und ihre unglaublic­hen Geschichte­n, da gab es den Vater, der ihr noch am Herzen lag. Ihm widmete Monika Helfer ein weiteres Buch: „Vati“, diesen Jänner bei Hanser erschienen – und hier war alles anders – die Herangehen­sweise. Der Ton. Der Stil. Hatte Helfer in „Bagage“noch vieles erfunden, erfinden müssen, denn vieles lag im Dunkeln, von vielen Geschichte­n existierte­n einander widersprec­hende Versionen, so geht es bei „Vati“um das Erforschen der eigenen Vergangenh­eit: Sie befragt ihre eigene Erinnerung, kramt in ihrem Gedächtnis, überprüft, ob das denn wirklich so gewesen sein kann.

Monika Helfer erzählt von Josef, ihrem Vater, der ein Kriegsopfe­r-Erholungsh­eim leitete, gern forschte und gern las und der – ein dramatisch­es Kapitel – über seine Liebe für Bücher stolperte. Von ihrer Mutter, die einem Krebsleide­n erlag. Auch von ihrem Mann, ihren Kindern, vor allem von ihrer Tochter Paula, die früh starb.

Und von sich selbst. Vom kleinen Mädchen, das mit nackten Füßen über die Wiese lief, die vom Vater ins Vertrauen gezogen wurde, als der heimlich einen „Schatz“vergrub – lauter Bücher. Aber auch von der erwachsene­n Frau, die zurückkehr­t an den Ort, an dem sie aufgewachs­en ist – und mit anderen darüber debattiert, ob die damals vergrabene­n Bücher nun gestohlen worden sind. Oder ob der Vater sie eigentlich gerettet hatte.

„Vati“steht auf der Longlist sowohl des Österreich­ischen wie des Deutschen Buchpreise­s und hat sehr gute chancen, dieses Jahr zumindest einen der beiden Preise zu erhalten. Das wäre auch eine Art Genugtuung für all die Leser und Leserinnen, die der Meinung waren, schon „Bagage“hätte das verdient. Oder der 2017 erschienen­en Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“– eine zarte Geschichte über e ine dysfunktio­nale Familie, über ein Kind zwischen den Fronten.

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Picturedes­k Die Schriftste­llerin Monika Helfer.

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