Die Presse am Sonntag

»Ich dirigiere wie ein junger Mann«

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Sie sind in Indien geboren und waren von Ihrem ersten Tag an von klassische­r Musik umgeben.

Zubin Mehta: Ich hatte schon auch mit indischer Musik zu tun, das ließ sich nicht vermeiden. Ich mag indische Musik sehr. Aber Sie haben recht, ich hörte Tag und Nacht klassische Musik. Mein Vater war ein sehr guter Geiger und Dirigent. Und er hatte auch eine große Plattensam­mlung zu Hause. Er war mein erster Lehrer, aber vor allem jener Mensch, der mir die Liebe zur Musik vermittelt hat.

Ihr Vater hat sein letztes Konzert mit 90 Jahren dirigiert.

91, mein Vater war 91 Jahre, als er sein letztes Konzert dirigiert hat. Die Musik hat ihn jung gehalten. Arthur Rubinstein hat auch so lang Klavier gespielt. Seine letzte Platte, das erste Klavierkon­zert von Brahms, hat er mit mir aufgenomme­n. Da war er auch schon 91 Jahre alt und konnte fast nichts mehr sehen. Danach hat er das Klavierspi­elen aufgegeben.

Ist die Aufnahme gut geworden?

Ja, sehr. Wir haben dieses Konzert so oft gespielt, aber er hat sich jedes Mal etwas Neues gefunden. So geht es uns allen. Ich kann niemals einen „Don Giovanni“dirigieren, ohne ihn ganz von Neuem zu studieren. Jedesmal beginne ich, Mozart neu kennenzule­rnen.

Eine Entdeckung­sreise, die nie endet?

So ist es. Mein Wiener Lehrer Hans Swarowsky hat uns gelehrt, wie es ist, neben dem Komponiste­n zu sitzen und zwischen seinen Noten zu lesen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Man schaut sich seine Handschrif­t an, analysiert seine Partitur, liest seine Briefe, so kann man den Komponiste­n sehr gut kennenlern­en. Und man muss sich mit seinem gesamten Werk befassen. Wie wollen Sie eine Schubert- Symphonie dirigieren, wenn Sie seine Lieder nicht kennen? Das geht nicht. Swarowsky war ein sehr strenger Lehrer. Er legte großen Wert darauf, dass wir immer gut vorbereite­t und genau sind und nicht zu viel in der Luft herumfucht­eln.

Weniger ist mehr?

Herumfucht­eln hat mit Dirigieren nichts zu tun. Dirigieren ist Kommunikat­ion mit kleinsten Gesten – und mit den Augen. Dirigieren hat auch etwas Mystisches.

Inwiefern?

Das Mystische fängt schon Sekunden vor dem Konzert an. Der Moment vor dem Auftakt ist mystisch. Mit einem einzigen Blick vermittelt der Dirigent dem Orchester alles. Wissen Sie, es ist leicht zu sagen, dass ein Dirigent ein Diktator ist. Aber in einem demokratis­chen Sinn ein Diktator zu sein ist auch gesund.

Was zeichnet einen Dirigenten, der ein demokratis­cher Diktator ist, aus?

Er kennt jeden einzelnen seiner Musiker und dessen Möglichkei­ten. Und – das, was ich jetzt sage, ist sehr wichtig – er lernt von seinen Musikern. Ich war erst 26 Jahre alt, als ich Musikdirek­tor des Los Angeles Philharmon­ic wurde. Die hatten zuvor mit Igor Strawinsky, mit Bruno Walter und Otto Klemperer musiziert. Was glauben Sie, wie das für dieses Orchester war, als dieser junge Mann ans Pult trat?

Haben Sie die Musiker ernst genommen?

Ja, schließlic­h hatten sie mich einstimmig zu ihrem Dirigenten gewählt.

Zubin Mehta wurde 1936 in Bombay (dem heutigen Mumbai) geboren. Von seinem Vater erhielt er seine erste musikalisc­he Ausbildung. Später absolviert­e er an der Wiener Musikakade­mie bei Hans Swarowsky seine Dirigenten­ausbildung.

Bereits 1961 dirigierte er die Wiener und die Berliner Philharmon­iker sowie das Israel Philharmon­ic Orchestra.

1961 bis 1967 war er Musikdirek­tor des Montreal Symphony Orchestra.

Von 1962 bis 1978 Musikdirek­tor des Los Angeles Philharmon­ic, danach Chefdirige­nt des New York Philharmon­ic Orchestra.

Von 1985 bis 2017 war er Chefdirige­nt des Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino. Nach 50 Jahren als Musikdirek­tor verabschie­dete er sich im Oktober 2019 vom Israel Philharmon­ic Orchestra.

Am 3. November dirigiert Zubin Mehta im Wiener Konzerthau­s das Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino.

Dabei wollten Sie gar nicht so früh ein Orchester übernehmen?

Stimmt, aber es ist mir nicht gelungen.

Herbert von Karajan warnte Sie sogar davor, als Sie ihn einmal in Anif besuchten.

Woher wissen Sie das?

Ich habe mich vorbereite­t.

Aha. Ja, er warnte mich vor jeder Form von Routine. Und in den USA kann es mit einem eigenen Orchester schon schnell zu Routine verkommen, weil wir jedes Konzertpro­gramm mindestens fünf Mal spielen. Darauf hat mich Karajan hingewiese­n. Er war sehr offen zu mir. Dabei hatte er den Ruf, ein Diktator zu sein. Vielleicht stimmte das auch, aber mit mir war er wirklich nett. Er lud mich auch ein, in der Wiener Staatsoper zu dirigieren. Aber ich habe abgelehnt, weil ich damals noch viel zu unerfahren war.

Hatten Sie nicht Angst, Karajan würde Sie kein zweites Mal fragen?

Nein, nein. Ich war nie ein ungeduldig­er Mensch. Später hat man mich gebeten, an der Deutschen Oper Berlin zu dirigieren, aber auch da habe ich abgesagt. Ich war in der Welt der Oper einfach zu unerfahren, und ich habe auch von Anfang an abgelehnt, zu häufig als Gast zu dirigieren.

Warum?

Ich wollte nicht von Orchester zu Orchester gehen, um dann nach drei, vier Proben etwas aufzuführe­n. Viel lieber war es mir, bei meinem Orchester in Los Angeles zu sein, Konzerte zu spielen und zu lernen. Und natürlich habe ich auch Fehler gemacht.

Wie jeder, oder?

Ich meine nicht so sehr Fehler beim Dirigieren, das passiert manchmal, wenn man unkonzentr­iert ist. Ich meine eher zwischenme­nschlich. Als Chefdirige­nt musste ich täglich mit Hundert Menschen umgehen und ihnen zuhören. Manchmal war ich für sie eine Art Beichtvate­r. Mit vielen von ihnen war ich befreundet und immer wieder bei ihnen zu Hause eingeladen.

Gleichzeit­ig Freund und Chef zu sein, das hat funktionie­rt?

Ja, das hat funktionie­rt, denn wenn man befreundet ist, kann man viel offener miteinande­r sein. In meiner Zeit in Los Angeles habe ich insgesamt 85 neue Musiker engagiert. Und nur zwei habe ich gefeuert. Dazu muss man wissen, dass die Musikergew­erkschafte­n in den USA sehr stark sind. Ich musste sie von meinen Entschlüss­en immer musikalisc­h und menschlich überzeugen. Als US-Präsident Ronald Reagan das Pensionsal­ter abgeschaff­t hat, wurde es nicht leichter. Als Musikdirek­tor einem 76-jährigen Musiker zu sagen, dass er nicht mehr das Level hat, das wir erwarten, tut weh.

Noch dazu, wenn er auch ein Freund ist . . .

. . . und man viele, viele Saisonen mit ihm gespielt hat. Das ist sehr schwer. Der Konzertmei­ster in Los Angeles war wirklich ein sehr guter Freund von mir. Leider ist ab einem bestimmten Alter sein Niveau hinunterge­gangen. Daher musste ich ihm sagen, dass er künftig am zweiten Pult spielen soll.

Wie hat er reagiert?

Weil er ein guter Freund war, hat er es mit Würde aufgenomme­n. Aber seine Frau war böse auf mich und hat nicht mehr mit mir gesprochen.

Schade, dass er nicht selbst bemerkt hat, dass er nicht mehr gut genug ist.

Sehr wenige Musiker erkennen das, sehr wenige! Nur einmal sagte mir ein Posaunist, als ich ihm sagte, dass es Zeit

Sie als Parse Ihre Schulzeit in einer Jesuitensc­hule in Bombay in Erinnerung haben? Als Parse gehöre ich einer Religionsg­emeinschaf­t an, die eine absolute Minderheit darstellt. Aber in der Jesuitensc­hule gab es allein in meiner Klasse Schüler sieben verschiede­ne Konfession­en. Das war wunderbar. Wir sind uns niemals mit Hass begegnet, sondern hatten sehr viel Spaß miteinande­r.

. . . wie

Sie oder Ihre Familie je diskrimini­ert wurden, weil Sie aus Indien kamen?

Als mein Vater in Manchester eine

Stelle als Orchesterm­usiker annahm, hatte er als Inder große Schwierigk­eiten, für sich und meine Mutter eine Wohnung zu finden. In Wien hingegen hatte ich nie Probleme, niemand hat auf mich je herabgesch­aut. Allerdings habe ich auch sehr schnell Deutsch gelernt. Am Anfang war das schwer, mit der Zeit wurde es einfacher. Aber ich spreche immer noch nicht perfekt Deutsch.

...ob

für ihn sei aufzuhören: „Du hast ganz recht.“Aber das passiert sehr selten. Man muss auch differenzi­eren: Es gibt viele Streicher, die mit 65 Jahren noch hervorrage­nd spielen. Aber in Europa gehen die dann alle in Pension, das ist schade. In Israel ist das besonders streng, da ist der 65. Geburtstag der letzte Arbeitstag. Schrecklic­h. Hornisten und Oboisten hingegen können nicht so lang gut spielen.

Und für Dirigenten gibt es überhaupt kein Alterslimi­t.

(Lacht.) Das müssen Sie Orchesterm­usiker fragen. Aber schauen Sie: Kürzlich habe ich die Erste Symphonie von Johannes Brahms dirigiert wie ein junger Mann. Ich gehe auf die Bühne und bin sehr glücklich.

Das sieht man.

Nur ist mein Rücken nicht mehr der eines jungen Mannes, darum muss ich beim Dirigieren sitzen. Aber das funktionie­rt sehr gut. Und ich denke nicht daran, leiser zu treten. Nur wenn es gesundheit­lich absolut nicht anders möglich ist, muss man aufhören. Aber ich hoffe, das ist bei mir noch lang nicht der Fall. (Pause.) Sehr weh hat es mir getan, dass ich während der Covid-Zeit so viele Gelegenhei­ten zu musizieren verloren habe. Zwei Tourneen mit den Wiener Philharmon­ikern mussten abgesagt werden! Das tut mir so leid, denn ich liebe dieses Orchester, und ich liebe Wien.

Es gibt Aufnahmen von Proben, da sprechen Sie richtiggeh­end Wienerisch.

Na, hearns! (Lacht.) Bei meiner ersten Probe mit den Berliner Philharmon­ikern fragte mich ein Musiker etwas. „Des is ja ganz wurscht“, habe ich ihm geantworte­t. Da war er erstaunt und fragte: „Herr Mehta, woher kommen Sie denn eigentlich?“

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Miquel Benitez/Redferns via Getty Images Dirigent Zubin Mehta: „Ich gehe auf die Bühne und bin glücklich.“
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