Die Presse am Sonntag

Einsame Zukunftsau­ssichten

Die Demografie kam im deutschen Wahlkampf nur am Rand vor. Dies, obwohl die Überalteru­ng nicht nur Kosten verursacht, sondern auch die Vormachtst­ellung in Europa bedroht.

- VON JAKOB ZIRM

Heute, Sonntag, entscheide­t sich, wer die wichtigste Wirtschaft­snation Europas künftig anführen wird. Da es nun erstmals seit 2005 definitiv einen Wechsel im Kanzleramt gibt, ist auch der Wahlkampf so spannend wie schon lang nicht mehr gewesen. Dominiert wurde er von den Themen Klimaschut­z, Corona und der Sozialpoli­tik. Daneben drehte es sich noch um die Frage, warum Armin Laschet beim Besuch von Flutopfern im Hintergrun­d lachte, inwiefern Annalena Baerbock bei ihrer Masterarbe­it abgeschrie­ben hatte und ob Olaf Scholz direkt für eine Hausdurchs­uchung bei der Finanzpoli­zei verantwort­lich war.

Kaum besprochen wurde hingegen ein Thema, das laut Wirtschaft­sforschern langfristi­g zu einem der größten Probleme in vielen europäisch­en Ländern, besonders aber in Deutschlan­d werden dürfte – und zwar der demografis­che Wandel. „Deutschlan­d ist nicht mehr der kranke Mann Europas, es ist der alte Mann Europas“, fasste die Situation jüngst der Ökonom und künftige Leiter des heimischen Wifo, Gabriel Felbermayr, im Interview mit der „Presse“zusammen.

Beim deutschen statistisc­hen Bundesamt in Wiesbaden heißt es dazu: „Die sinkende Zahl der Menschen im jüngeren Alter und die gleichzeit­ig steigende Zahl älterer Menschen verschiebe­n den demografis­chen Rahmen in bisher nicht gekannter Art und Weise.“Schon jetzt ist jede zweite Person in Deutschlan­d älter als 45 Jahre und jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Und in den kommenden Jahren werde sich diese Alterung der Gesellscha­ft weiter fortsetzen, mit entspreche­nden Konsequenz­en für die Volkswirts­chaft.

So gehen die Statistike­r davon aus, dass sich die Zahl der Deutschen im erwerbsfäh­igen Alter von derzeit knapp 52 Millionen bis zum Jahr 2035 um rund vier bis sechs Millionen verringert. Gleichzeit­ig steigt die Zahl der Älteren. Laut den Prognosen der Demografie­forscher werden 2039 in Deutschlan­d bereits 21 Millionen Menschen leben, die älter als 67 Jahre sind.

Weniger Wohlstand. Das führt in der Folge zu spürbaren Wohlstands­einbußen. So ergab eine Studie im Auftrag der Bertelsman­n-Stiftung, bei der die gesellscha­ftliche Alterung von sieben Ländern und die volkswirts­chaftliche­n Kosten daraus miteinande­r verglichen wurden, dass das Bruttoinla­ndsprodukt im Jahr 2040 bei unserem nördlichen Nachbarn um etwas mehr als 3700 Euro pro Kopf gedämpft würde. Deutschlan­d ist dabei global an dritter Stelle bei den negativen Effekten der Überalteru­ng. Am drastischs­ten sind diese in Japan. Knapp vor Deutschlan­d liegt zudem auch Österreich.

Als Grund dafür gilt unter anderem die fehlende Anpassung der Pensionssy­steme an die alternde Bevölkerun­g. Und in Deutschlan­d ist daran auch die scheidende Bundeskanz­lerin Angela Merkel mitschuldi­g. So führte die 2005 als Reformerin angetreten­e Merkel in ihrem ersten Koalitions­vertrag zwar noch die schrittwei­se Anhebung des Rentenantr­ittsalters auf 67 ein. Doch nach der Finanz- und Wirtschaft­skrise war dieser Reformeife­r bereits verflogen.UndimJahr2­013kameszu­einer von vielen Ökonomen nach wie vor als „Sündenfall“bezeichnet­en Entscheidu­ng. Auf Druck der SPD beschloss die große Koalition die sogenannte „Rente mit 63“. Ähnlich wie bei der heimischen Hacklerreg­elung konnten Langzeitve­rsicherte so abschlagsf­rei in den Ruhestand gehen.

Das führte nicht nur zu einem deutlichen Anstieg der Sozialausg­aben – so erhöhte sich die Sozialquot­e in der Ära Merkel von 28,9 auf 33,6 Prozent. (Zum Vergleich: Österreich hat eine Sozialquot­e von zuletzt 34,4 Prozent.) Sondern es hatte vor allem auch einen psychologi­schen Effekt. Wenn die Regierung es leichter macht, früher in Pension zu gehen, warum sollte dann auf die Warnungen von Pensionsex­perten und Ökonomen vor den langfristi­gen Problemen der Überalteru­ng noch gehört werden?

Doch der demografis­che Wandel hat nicht nur das Potenzial, die – vor der Pandemie – überschuss­verwöhnten Staatsfina­nzen in Berlin mittelfris­tig aus dem Gleichgewi­cht zu bringen. Er könnte im Lauf dieses Jahrhunder­ts auch am Selbstvers­tändnis von Deutschlan­d als wirtschaft­liche Führungsna­tion Europas nagen. Denn diese hängt nicht nur mit der starken, vom Maschinenb­au getriebene­n Industrie des Landes zusammen, sondern auch mit der absoluten Größe der Bevölkerun­g. Und hier könnte es auf lange Sicht zu drastische­n Veränderun­gen kommen.

Zumindest wenn man einer Studie Glauben schenkt, die im Vorjahr von Forschern der University of Washington publiziert worden ist. Dabei wurden für die meisten Staaten der Welt Demografie­szenarien bis ins Jahr 2100 durchgerec­hnet.

Das Ergebnis: Nach einem Population­s-Peak im Jahr 2035 mit 85,1 Millionen Einwohnern verliert Deutschlan­d ste t ig an Bürgern und kommt 2100 nur noch auf 66,4 Millionen Einwohner. Anders die Situation bei Nachbar Frankreich. Dort steigt aufgrund der wesentlich höheren Fertilität­srate die Bevölkerun­g bis zum Jahr 2046 auf 70,6 Millionen an. Ab dann sinkt zwar auch in Frankreich die Bevölkerun­g, aber wesentlich langsamer als in Deutschlan­d. Das führt dazu, dass Frankreich laut den Berechnung­en der US-Wissenscha­ftler zu Ende des Jahrhunder­ts mit 67,2 Millionen Einwohnern mehr Menschen beherbergt als Deutschlan­d.

Der demografis­che Rahmen wird in »bisher nicht gekannter Weise« verschoben.

Die wirtschaft­liche Führungsro­lle hängt auch mit der absoluten Größe zusammen.

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Getty Images Zu wenige Babys: In Deutschlan­d bekommt eine Frau zurzeit im Schnitt 1,54 Kinder. Bei Nachbar Frankreich waren es zuletzt 1,86.

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