Die Presse am Sonntag

DIE FUSSBALL-KANZLERIN

- THOMAS VIEREGGE

Im April 2005 stieg über dem Vatikan weißer Rauch auf. Die Kardinäle hatten einen Deutschen zum Papst gekürt, und die „Bild“Schlagzeil­e „Wir sind Papst“wurde zum geflügelte­n Wort. Es sollte die erste Zäsur sein im Jahr einer überrasche­nden Neuwahl, in der die Union unter Angela Merkel nur knapp siegte. Viel hätte nicht gefehlt, und die Karriere der 51-Jährigen wäre zu Ende gewesen.

Just ein Testostero­n-Auftritt Gerhard Schröders am Wahlabend in der TV-Elefantenr­unde zementiert­e ihre Position. Mit Müh und Not schmiedete sie eine Große Koalition. Bei der Angelobung im Bundestag präsentier­te sich die erste Regierungs­chefin des Landes als „Kanzlerin der kleinen Schritte“. Ihre Rede fiel angesichts des historisch­en Moments merkwürdig verhalten aus – „merkelig“, ohne große Geste und Pathos.

„Sommermärc­hen“. Ihre eigentlich­e Ära begann dann erst ein halbes Jahr später unter Regentscha­ft von „Kaiser Franz“, dem damals unantastba­ren Nationalhe­lden Franz Beckenbaue­r.

Gleichsam mit dem Eröffnungs­spiel der Fußball-WM 2006 im Münchner Stadion und dem ersten Tor Philipp Lahms hatte sich das Land verwandelt. Es brach Euphorie aus, das Sportereig­nis geriet zu einem Fest der Völker und Nationen, Deutschlan­d durchlebte vier Wochen ein „Sommermärc­hen“, und Angela Merkel, die nüchterne Pastorento­chter, avancierte zum obersten Aficionado des Nationalte­ams von Jürgen Klinsmann. Eine Ola-Welle rollte von Rügen bis zur Zugspitze.

Die Welt staunte über das neue, lockere, leichtfüßi­ge Deutschlan­d. Und die Deutschen erkannten ihre spröde Kanzlerin nicht wieder, die Gefallen fand an „Klinsi“, „Jogi“, „Poldi“und „Schweini“. Sie lud die Kicker ins Kanzleramt und hielt ihnen 15 Jahre lang die Treue durch alle Höhen und Tiefen. Auf der Tribüne fieberte Merkel bei den Deutschlan­d-Spielen mit den „Klinsmänne­rn“mit, bei den Toren riss es sie mitunter vom Sitz – freilich mit zaghafter Jubelpose. Die Fußballlei­denschaft verlieh ihr eine volkstümli­che Facette.

Als sich 2008 neuerlich eine globale Euphorie – die Obamania – ausbreitet­e, ließ sie sich indes nicht anstecken: Sie behielt kühlen Kopf und verweigert­e Barack Obama das Brandenbur­ger Tor als Wahlkampfb­ühne.

Newspapers in German

Newspapers from Austria