Die Presse am Sonntag

DIE FLÜCHTLING­SKANZLERIN

- NICOLE STERN

Es waren drei Worte, die in die Geschichte eingehen sollten: „Wir schaffen das“, hatte Angela Merkel im August 2015 gesagt. Es war jene Zeit, in der die Bundesrepu­blik mit der Ankunft von 800.000 Flüchtling­en – noch im selben Jahr – rechnete. Der Krieg in Syrien hatte eine Bewegung über die Balkanrout­e nach Ungarn und Österreich losgetrete­n, die auch vor der bayerische­n Grenze nicht haltmachte. Die Kanzlerin sah es als humanitäre­n Akt an, den Menschen die Einreise zu ermögliche­n. Statt auf „deutsche Gründlichk­eit“zu beharren, appelliert­e Merkel nun an die „deutsche Flexibilit­ät“.

„Dunkeldeut­schland“. So beherzt man den Flüchtling­en zunächst auch entgegenge­treten war, sie spalteten schnell – nicht nur die Politik, auch die Gesellscha­ft. Und sie sprengten das deutsche Asylsystem. Die Angriffe auf Flüchtling­sunterkünf­te im Land nahmen rapide zu, die rechtsradi­kale Szene erstarkte, und die islamfeind­liche Pegida-Bewegung ging wieder auf die Straße. Im sächsische­n Heidenau wurde der Besuch der Kanzlerin nach fremdenfei­ndlichen Ausschreit­ungen mit Buhrufen quittiert. Es lag ein Schatten über Deutschlan­d, das plötzlich „Dunkeldeut­schland“(Joachim Gauck) hieß.

Aus der bayerische­n Schwesterp­artei, der CSU, kamen immer mehr Querschüss­e gegen die Kanzlerin. Man war nicht mehr bereit, ihr Credo, „keine Obergrenze für Flüchtling­e“, mitzutrage­n. Und so schlittert­e die Union von der Flüchtling­skrise in ihre eigene. „Die Welt sieht Deutschlan­d als Hoffnung und Chance, das war nicht immer so“, sagte Merkel, weil sie in einer schweren Stunde für Europa nicht tatenlos zusehen wollte.

Sie sagte auch: „Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns dafür zu entschuldi­gen, dass wir in Notsituati­onen ein freundlich­es Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“Doch mit dieser Art der Politik, die mit Kontrollve­rlust einherging, stellte sie sich – nicht nur in der Bundesrepu­blik – zunehmend ins Eck. Ihre emotionale­n Regungen halfen da nicht.

Als größte Herausford­erung seit der Wiedervere­inigung bezeichnet­e Merkel die Aufgabe, so vielen Menschen Schutz zu gewähren. Ihr zehntes Jubiläumsj­ahr als Kanzlerin hatte sie sich wohl anders vorgestell­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria