Die Presse am Sonntag

DIE »ARRIVEDERC­I«-KANZLERIN

- J. STREIHAMME­R

Eine Novemberna­cht 2017: Parteiprom­inenz von Union und Grünen nippt konsternie­rt am Bierfläsch­chen und schildert offenherzi­g die verzwickte Lage. Angela Merkel tuschelt mit zwei Parteifreu­ndinnen. Sie sieht müde aus. Die FDP ließ kurz zuvor die Gespräche über eine Jamaika-Koalition platzen. Dieses Mal hatte sich Merkel verzockt. Ihre (einzige) Machtoptio­n war keine mehr. Vielleicht markierte diese Nacht den Beginn vom Ende der Ära Merkel. Zwar beschenkte sie später die SPD reichlich mit Ämtern, um doch noch eine Regierung zustande zu bringen. Aber auf dieser kleinen Großen Koalition lag kein Segen. Ihr fehlten Idee und Erzählung. Und ohne akute Krise wirkte die „Krisenkanz­lerin“blass.

Die Pandemie. Am 18. März 2020, in ihrem vorletzten Jahr als gewählte Kanzlerin, tauchte Merkel auf den TV-Schirmen in den Wohnzimmer­n auf. Wieder war Krise. Und zum ersten Mal wandte sie sich deshalb in einer TVAnsprach­e an die Deutschen. Die Lage musste also todernst sein. In ihrer Ansprache traf sie den richtigen Ton. Vielleicht war sie den Deutschen nie näher als an diesem Abend. Diese Krise war anders als alle zuvor, sie rang der Kanzlerin in ihrem Spätherbst eine neue Facette ab: Merkel zeigte in ihren Reden Emotionen. Durchregie­ren ließ der Föderalism­us nicht zu, die ungelenke Rhetoriker­in musste die Macht des Worts einsetzen, erklären und appelliere­n. Und einmal entschuldi­gte sie sich sogar – auch das eine Premiere.

Sonst blieb Merkel aber Merkel. Sachlichnü­chtern spulte sie bisher ihr Restprogra­mm ab. Im Kampf um ihre Nachfolge verhielt sich die populäre Kanzlerin lang neutral wie die Schweiz. Nur im Finish machte sie CDUWahlkam­pf, neulich im Regen von Stralsund. Vor Ort war gut zu spüren: Es war wie immer mehr Pflicht als Vergnügen. Ihrem Wahlkreis sagte sie in einem Spontanbes­uch „Arrivederc­i!“. Über ihre Pensionspl­äne gibt sie in winzigen Häppchen Auskunft: „Ich werde vielleicht versuchen, etwas zu lesen.“Falls sie schon Wehmut verspürt, versteckt sie sie geschickt. Aber noch ist sie ja Kanzlerin – und falls sie bis 17. Dezember im Amt bleibt, hätte sie länger regiert als alle ihre Vorgänger.

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