Die Presse am Sonntag

DIE UNNAHBARE

- THOMAS PRIOR

Eine sonderlich volksnahe Kanzlerin war Angela Merkel nie. Auf die Stammtisch­meinung gab sie nicht viel. Und in die Niederunge­n des Wahlkampfs begibt sie sich bis heute äußerst ungern. Im Spätsommer 2016 schien die Kluft zwischen den Deutschen und ihrer Kanzlerin jedoch noch größer geworden zu sein. Bei jeder Gelegenhei­t rächten sich nun kritische Wähler für Merkels liberale Politik während der Flüchtling­skrise. Die AfD wurde immer stärker – und die Union immer nervöser.

Der CDU-Parteitag Anfang Dezember 2016 in Essen, eine für österreich­ische Verhältnis­se unvorstell­bar große Veranstalt­ung, stand für die Kanzlerin also unter keinen guten Vorzeichen. Am Vorabend gab es einen Empfang für Journalist­en. Angela Merkel saß an einer langen Tafel mit den Vertretern der wichtigste­n deutschen Medien, die an den Lippen der Kanzlerin hingen. Alle anderen wurden mit einer Kordel, die um den Tisch gespannt war, auf Abstand gehalten. Den österreich­ischen Bundeskanz­ler trifft man hin und wieder, man kann ihn in ein Gespräch verwickeln, manchmal bekommt man sogar ein Interview. Bei Angela Merkel ist das unmöglich. Näher als zehn Meter kommen ihr nur die wenigsten (Journalist­en).

Am nächsten Tag stimmten 89,5 Prozent der Delegierte­n für Angela Merkel. Es war ein Denkzettel, aber nur ein kleiner. Ihre Popularitä­t war, trotz allem, nach wie vor groß. Und die Union brauchte sie für die Bundestags­wahl im nächsten Jahr. Allerdings musste die Kanzlerin Zugeständn­isse machen: In der Asylpoliti­k wurden von nun an andere Töne angeschlag­en. Erst recht nach dem 19. Dezember, als ein islamistis­ch verblendet­er Flüchtling mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachts­markt raste, zwölf Menschen tötete und Dutzende zum Teil schwer verletzte.

Im Jänner machte der ungeliebte Sigmar Gabriel den Weg in der SPD für Martin Schulz frei. Der langjährig­e Präsident des EU-Parlaments wurde mit 100 Prozent zum Parteichef und Kanzlerkan­didaten gewählt. In den Umfragen war bald ein Schulz-Effekt zu beobachten. Die Sozialdemo­kraten glaubten nun ernsthaft, Angela Merkel schlagen zu können. Näher sollten sie ihr nie mehr kommen.

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