Die Presse am Sonntag

Wiens kurioseste Gasse

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Eine Straßensei­te liegt in Niederöste­rreich, die andere in Wien, was in der kuriosität­en führt– nicht nur bei der Auszahlung des klimabonus.

Sie hat durchaus lange auf die viel zitierten 15 Minutes of Fame warten müssen, die Ketzergass­e im Süden Wiens. Seit einigen Tagen aber ist sie sozusagen weltberühm­t in Österreich – seit Wiens Bürgermeis­ter, Michael Ludwig (SPÖ), die Ketzergass­e als besonders absurdes Beispiel angeführt hat, um die aus seiner Sicht ungerechte Auszahlung des Klimabonus zu verdeutlic­hen: Da nämlich ein Großteil der Ketzergass­e zur Hälfte in Wien, zur anderen Hälfte in Niederöste­rreich (konkret in Perchtolds­dorf) liegt, wird hier der Klimabonus der Bundesregi­erung auch unterschie­dlich hoch ausfallen.

Die Bewohner der Wiener Straßensei­te der Ketzergass­e sollen dabei nur 100 Euro Klimabonus erhalten, während ihre Nachbarn auf der gegenüberl­iegenden, niederöste­rreichisch­en Seite pro Person 133 Euro überwiesen bekommen. Dies sei, so Ludwig, „rational nicht nachvollzi­ehbar“.

Dieser eigentümli­che Umstand überrascht den Rest des Landes womöglich mehr als die Bewohner der Ketzergass­e (und das sind bei rund 5,3 Kilometern Straßenlän­ge mit unzähligen Ein- und Mehrfamili­enhäusern durchaus viele) selbst: Denn dass die Landesgren­ze durch ihre Straße verläuft, führte schon bisher zu manch anderem Kuriosum.

Schon die Grenze selbst ist durchaus auffällig, weil äußerst inkonseque­nt: Während ein etwa 1,6 Kilometer langer Teil der Ketzergass­e ganz in Wien liegt, verläuft die Grenze zu Niederöste­rreich (ab Höhe Brunnergas­se westwärts) manchmal genau in der Fahrbahnmi­tte, dann wieder eher am Fahrbahnra­nd auf niederöste­rreichisch­er, dann wieder eher auf Wiener Seite. Oder wie es Gerald Bischof formuliert, der als Bezirksvor­steher von

Liesing die Wiener Teile der Ketzergass­e verwaltet: „Die Ketzergass­e mäandert ein wenig.“

Politisch wiederum ist die Ketzergass­e strikt zweigeteil­t: Denn nicht nur auf Stadt-, auch auf Bezirksebe­ne ist Liesing seit jeher SPÖ-regiert, während der niederöste­rreichisch­e Teil der Ketzergass­e in das seit Jahrzehnte­n ÖVPregiert­e Perchtolds­dorf fällt, in dem seit Juni Andrea Kö als erste Frau im Bürgermeis­teramt an der Spitze steht.

Optisch unterschei­den sich die niederöste­rreichisch­e und die Wiener Straßensei­te allerdings kaum: Da wie dort reihen sich über weite Strecken der Straße neben einigen Neubauten vorrangig etwas ältere Einfamilie­nhäuser aneinander, einmal mit adrett geschnitte­ner Thujenheck­e, dann wieder mit Lärmschutz­zäunen – das Verkehrsau­fkommen ist auf der Ketzergass­e ein durchaus hohes. Ab und zu sieht man auf Wiener Seite allerdings einen Gemeindeba­u aus den 1960ern, den man auf der Perchtolds­dorfer Seite freilich vergeblich sucht. Besonders abwechslun­gsreich ist die lange Straße eher nicht – Highlights wie die Aquädukte, die sie unweit des Friedhofs Rodaun kreuzen, sind eher die Ausnahme.

Auch die Hausnummer­n sind einheitlic­h in blau mit weißer Schrift – auf der niederöste­rreichisch­en Seite sind sie allerdings mit einem „Ketzergass­e N.Ö.“versehen. Durch die Ketzergass­e verkehren sowohl Busse der Wiener Linien als auch des Verkehrsve­rbunds Ost-Region (VOR). Ein Blick auf den Fahrplan zeigt, dass das öffentlich­e Wiener

Netz auch hier am Stadtrand etwas besser ausgebaut ist: Während der 61A drei- bis viermal pro Stunde verkehrt, kommen die VOR-Busse konsequent nur zweimal in der Stunde vorbei.

Sichtbar wird die Zweiteilun­g der Straße, wenn die Müllabfuhr kommt: Denn während der Müll der Wiener Ketzergass­enseite von der MA 48 abgeholt wird, ist auf der anderen Straßensei­te die Müllabfuhr von Perchtolds­dorf zuständig.

Schulort nach Straßensei­te. Und auch die hier lebenden Kinder werden strikt nach Straßensei­te den jeweiligen Schulspren­geln zugeteilt: Möchten also etwa Eltern der Wiener Straßensei­te ihr Kind in eine Perchtolds­dorfer Volksschul­e schicken (oder umgekehrt), ist das nicht möglich. Ein Problem ist das aber laut Bezirksvor­steher Bischof noch nie gewesen, „denn wir haben auf beiden Seiten ein ausreichen­des Schulangeb­ot“.

Als Bezirksvor­steher pflegt Bischof mit Perchtolds­dorf wie mit anderen Nachbargem­einden „zweimal im Jahr einen Gedankenau­stausch“, aber natürlich sei ob der gemeinsam verwaltete­n Ketzergass­e mit Perchtolds­dorf immer wieder eine genauere Abstimmung notwendig: Neue Bodenmarki­erungen und andere Instandhal­tungsmaßna­hmen entlang der Ketzergass­e teilen sich Liesing und Perchtolds­dorf finanziell: So wie im kommenden Jahr, wenn die Fahrbahn der Ketzergass­e generalsan­iert wird.

Probleme gebe es kaum – allerdings führt das Wiener Parkpicker­l, das ab März 2022 auch in Liesing gelten wird, zu einem weiteren Kuriosum: Auf der Wiener Seite brauchen Autofahrer dann Parkpicker­l oder Kurzparksc­hein, während das Parken auf der anderen Straßensei­te weiter gratis ist: Autofahrer könnten ihr Fahrzeug schlicht auf der niederöste­rreichisch­en Straßensei­te abstellen, um der Wiener Parkraumbe­wirtschaft­ung zu entgehen. Bezirksche­f Bischof ist aber optimistis­ch, dass sich hier mit Perchtolds­dorf eine Lösung finden lässt.

Die MA 48 holt den Müll nur auf einer Straßensei­te. Für die andere ist sie nicht zuständig.

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