Glücksbringer in Not
Die Mehlschwalbe ist der Vogel des Jahres 2022, was ein ausgezeichneter Anlass ist, um eine größer angelegte Aktion für den Schutz der Flugkünstler anzuregen.
Es gab zwei Arten von Bauern im Dorf, und es war einfach, sie zu unterscheiden. Die einen, die wir nicht mochten und oft fürchteten, hieben mit langen Nussstangen so lang auf die Schwalbennester ein, bis nur noch das Echo lehmiger Halbmonde an den Wänden hing. Die anderen, zum Glück in der Überzahl, ließen die schönen Flieger in Ruhe, und nur auf solchen Höfen verkehrten wir: Wo die Nester in langen Reihen unter den Vorsprüngen klebten und die Stallfenster offen standen, damit die Schwalben aus und ein fliegen konnten, war es auch für Kinder besser sein.
Die Kühe, die Fliegen und die Schwalben. Die erste Brut ausgeflogen, und schon wieder neue Eierchen in den Nestern, Betasten, auch vorsichtiges, streng verboten. Warme Sommerabende, Heu und Schmalzbrot mit Knoblauch im staubigen Hof, während drinnen die Melkmaschine summte und die Schwalben durch die Luken flogen. Über dem Eingang zum Stall war ein Brett montiert, zum Schutz vor allzu viel Glück von oben. Es war schön. Die Welt schien warm und in glatter Ordnung wie ein frisch gelegtes Hühnerei. Es gab Dinge, auf die unbedingt Verlass war.
Vorboten. Die beste Zeit des Jahres beispielsweise, in der man sich schon auf die Sommerferien und bevorstehende Tage des Umherstreifens durch Felder und Wälder freute, begann mit der von irgend jemandem ausgerufenen Botschaft: „Die Schwalben sind wieder da!“Man schaute hinauf und sah beglückt den pfeilschnellen Beweis zwischen Himmel und Erde: Sie waren da und damit der Sommer nah. Im Herbst drehte sich die Fragestellung zu einem bangen „Sind sie noch da?“um. Ja, hieß es dann, aber sie sammeln sich schon, oder: Nein, vor ein paar Tagen sind sie abgeflogen. Ab dann kam der Herbst, so zuverlässig wie jedes Jahr.
Die Schwalben kehren zwar immer noch zurück in die für sie unwirtlicher gewordenen Lande, doch es sind so wenige. Wie viele Brutpaare es hierzulande vor vierzig, fünfzig Jahren gab, weiß niemand. Es bestand keine Notwendigkeit, sie zu zählen, die Schwalbenzüge gehörten noch zu den Selbstverständlichkeiten, auf die ohnehin Verlass war. Doch in den zwei Jahrzehnten, seit man sie mit größerer Sorge betrachtet und damit begonnen hat, ihre Zahl zu dokumentieren, hat sich der damals mit Sicherheit bereits geschwächte Bestand noch einmal halbiert.
Deshalb ist es nur gut und richtig, wenn Birdlife Österreich die Mehlschwalbe
soeben zum Vogel des Jahres 2022 gekürt hat, denn Schwalben sind eindeutig Sympathieträgerinnen unter den Gefiederten. Lasst uns eine breite Kampagne für diese wundervollen Tiere beginnen. Doch zuerst ein kleiner Nachhilfekurs für alle, die früher, als es in der Volksschule noch gelehrt wurde, nicht aufgepasst haben, und für die anderen, denen man es gar nicht mehr beigebracht hat: Wie unterscheidet man die Mehl- von der Rauchschwalbe? Auch das ist einfach, und wer die Lösung aufzeichnen kann, bekommt die altmodische Römische Eins.
Die Rauchschwalben sind diejenigen mit dem extrem tief gegabelten Schwanz und dem rostroten Gesicht. Ihre Nester sind schalenförmig, man kann also von oben hineinschauen, und sie werden bevorzugt geschützt und in Innenräumen wie etwa Ställen gebaut. Die etwas kleinere Mehlschwalbe hingegen zeichnet sich durch ein cremeweißes Bäuchlein und einen weniger tief gegabelten Schwanz aus. Sie baut ihre kugeligen Nester in Kolonien unter Vorsprüngen, und zwar so, dass lediglich ein Einschlupf geöffnet bleibt.
Die Gründe für das Schwinden der Schwalben sind mannigfaltig, doch einige wären einfach zu beheben, von Bürgermeistern beispielsweise, auch von Gartenleuten und Landwirten. Denn neben dem Insektensterben ist das Grauen der Versiegelung offener Böden eines der Hauptprobleme der Vögel. Wo kein Baumaterial in Form von feuchter, idealerweise lehmiger Erde vorhanden ist, kann auch kein Nest gebaut werden. Schwalben brauchen Lacken und Gatsch, natürliche Zustände, die offenbar nach Möglichkeit mit Begeisterung vernichtet werden. Einmal mehr ist in diesem Zusammenhang die pedantische Wut der Rain- und Böschungspflege, das Abmähen und Vernichten von allem und jedem an Straßen-, Weg und Ackerrändern, an Bachufern und überhaupt überall, wo es möglich ist, zu geißeln. Lasst doch die Wildnis stehen, keinen Menschen stört sie, wohingegen die Grasstoppelglatze der große, schleichende Tod des kleinen wilden Lebens ist. Dazu bald mehr. Würde ein Schwalbenpaar dereinst mein Heim als Nistplatz würdig befinden, es wäre mir jedenfalls eine beglückende Ehre. veränderten Kulturlandschaften. Einen Weg zurück zum Ursprünglichen gibt es nicht. Doch was spricht gegen die mannigfaltigen Möglichkeiten, das Gezähmte und Überkultivierte langsam wieder zumindest in Teilen verwildern zu lassen?
Monbiot hat jahrelang in den unterschiedlichsten Gegenden recherchiert, ist dafür geschwommen, geklettert und Kajak gefahren, hat Agrarlobbyisten und Umweltschützer befragt und ein leidenschaftliches Plädoyer geschrieben. „Verwildert“, erschienen im Berliner Verlag Matthes & Seitz, ist auch eine spannend zu lesende, reportagige Reise durch unbekannte Biotope, durch gelungene und gescheiterte Verwilderungsprojekte zu Land und zu Meer. Wir könnten sofort starten, indem wir das erwähnte Absäbeln aller wilden Randzonen beenden.