»Straßen sind nicht automatisch schlecht«
Im »Stern-Report« kalkulierte er als einer der Ersten die Kosten des Klimawandels. Heute sieht der Ex-Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern den Klimawandel als die »Wachstumsstory des 21. Jahrhunderts« und fordert eine Flut an grünen Investitionen.
Vor fast genau 15 Jahren haben Sie mit dem legendären „Stern-Report“der Welt erstmals vor Augen geführt, welche ökonomischen Schäden der Klimawandel der Menschheit bringen wird. Hat die Welt angemessen auf Ihre Warnung reagiert? Nicholas Stern: Aus heutiger Sicht haben wir damals die Kosten des Klimawandels unterschätzt, obwohl es laute Kritiker gab, die der Meinung waren, ich übertreibe. Als wir den „Stern-Report“geschrieben haben, hatte der Weltklimarat IPCC erst seinen dritten Bericht veröffentlicht. Seither sind vier weitere gefolgt – und mit jedem wurde der Ausblick düsterer. Die Folgen des Klimawandels werden uns schneller und stärker treffen als damals gedacht. Die Welt hat den Höhepunkt an Emissionen noch immer nicht erreicht. Auf der anderen Seite haben wir unterschätzt, wie schnell erneuerbare Energie in weiten Teilen der Welt billiger sein wird als die fossilen Energieträger.
Auf politischer Ebene scheint aber wenig zu passieren, während sich viele Unternehmen rasch anpassen. Täuscht dieser Eindruck? Nein. Viele Unternehmen sind schneller als die Politik. So gut wie alle großen Autohersteller haben sich inzwischen vom Verbrennungsmotor abgewandt. Aber auch in der Politik ist einiges passiert, vor allem in Europa. Nachdem wir den „Stern-Report“veröffentlicht haben, kam bald die globale Finanzkrise, und die Regierungen haben die Aufmerksamkeit für das Klimathema verloren. Gleichzeitig hat die Krise die Investitionen erschwert. Das ist deshalb so entscheidend, weil der Weg aus der Klimakrise Investitionen brauchen wird. Das Pariser Klimaabkommen
war ein bemerkenswertes Ereignis, weil es erstmals globale Einigkeit beim Ziel gab. Das hat verändert, was Menschen und Unternehmen von der Zukunft erwarten. Paris hat den Investoren gezeigt, dass ihr Geld in Gefahr ist, wenn sie an der alten Welt festhalten. Während der Amtszeit von Donald Trump haben die Öl- und Gasunternehmen die Hälfte ihres Werts verloren. Und das in einer Zeit, in der die Börsen einen Höhenflug hatten.
Warum sind Politiker zögerlicher als Unternehmen und Investoren?
Die Unternehmen fühlen das Risiko am unmittelbarsten. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Investitionen in 20 Jahren noch etwas wert sind. Diesen Druck gibt es für Politiker nicht. Sie investieren nicht ihr eigenes Geld. Und viele Konzerne merken auch, dass ihre Kunden und Mitarbeiter eine Veränderung fordern. Bei Unilever bewerben sich jedes Jahr zwei Millionen Menschen – auch weil sich das Unternehmen in den vergangenen Jahren stark verändert hat und viel grüner geworden ist. Die alte Geschichte, dass Unternehmen nur den Profit maximieren wollen, ist endgültig vorbei. Unternehmen suchen heute nach profitablen Lösungen für die Probleme der Welt.
Die Klimaversprechen der Staaten sind hingegen viel zu gering, um das in Paris anvisierte 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Wird der Weltklimagipfel in Glasgow daran etwas ändern?
Meine Hoffnungen sind größer als meine Erwartungen. Ich hoffe, dass wir in Glasgow Schritte sehen, um diese Lücke zu schließen. Und dann müssen wir uns die Frage stellen: Über welche Mechanismen können wir das künftig beschleunigen?
Keine andere Weltregion hat ihre Emissionen in den vergangenen Jahren so stark reduziert wie Europa. In den stark wachsenden Volkswirtschaften in Asien geht der Ausstoß an Treibhausgasen weiter steil nach oben. Wie kann man diese Staaten überreden, weniger CO2 zu emittieren, ohne dafür auf Wachstum zu verzichten?
Wir sollten sie gar nicht überreden. Sie sollten sich selbst dafür entscheiden. Weil sie erkennen, dass sie ein Teil dieser Welt sind. Besonders wichtig ist China, weil rund 30 Prozent aller Emissionen von dort kommen. Wir kaufen ihre Güter, also tragen auch wir einen Teil der Verantwortung. Aber die Entscheidungen fallen in Peking. Derzeit sehen wir, dass die chinesischen Emissionen auf ein Plateau zusteuern. Das Land will keine neuen Kohlekraftwerke im Ausland mehr finanzieren und wird seinen Höhepunkt an Emissionen 2027 erreicht haben. China verändert sich, wie schnell China das tut, formt die Zukunft für uns alle. Darum ist Kooperation mit Peking in diesem Bereich so wichtig. China erkennt die Gefahren des Klimawandels. Viele Chinesen leben an der Küste, viele sind vom Wasser des Himalaja abhängig. Wenn Eis und Schnee dort verschwinden, wird es viel mehr Fluten und Dürren geben. China, Indien, Pakistan, Bangladesch – sie alle sind verletzlich. Das erkennen sie. Und sie beginnen auch zu sehen, dass es bessere Wege gibt.
Es braucht also keinen Sanktionsmechanismus, um das Pariser Klimaabkommen auch wirklich durchzusetzen?
Beginnen wir mit Ermutigung und Finanzierung. China braucht das nicht. Aber Indien braucht viel günstige Finanzierung. Wir wissen, dass Investitionen die grüne Wende antreiben werden. Aber wie bringen wir die Gelder dorthin?
Sie sprechen von Kooperation, gleichzeitig plant Europa Klimazölle, um seine Industrie vor „schmutzigen“Billigimporten aus Asien zu schützen.
Europa führt relativ hohe CO2-Preise ein, und in einigen Branchen wird das die Kosten nach oben treiben. Die Stahl-, Aluminium- und Chemiebranche sind da sicher betroffen. Hier gibt es die reale Gefahr, dass die Veränderung der Industrie durch billige Importe aus Ländern mit weniger hohen Standards aus der Spur gebracht werden könnte. Wenn das so ist, müssen wir diese Importe entweder besteuern oder verbieten. Der CO2-Grenzausgleich ist ein wichtiges Instrument, aber man muss gut aufpassen, wie er ausgestaltet wird. Viele Länder in Europa sind sehr gut darin, Systeme so zu pervertieren, dass sie nur noch protektionistische Zwecke erfüllen. Und wir sollten den CO2-Preis auch nicht überschätzen. Die Auswirkungen dieser Zusatzkosten etwa auf den Preis einer Waschmaschine sind minimal.
Sie sagen, die grüne Wende ist nicht nur für das Klima, sondern auch für den Wohlstand das bessere Geschäft. Aber kaum werden konkrete Maßnahmen beschlossen – wie in Österreich etwa eine CO2-Steuer – wird nur noch gerechnet, wie viel die Menschen verlieren und worauf sie verzichten müssen.
In manchen Bereichen verteuert die Transition unser Leben tatsächlich. Aber in zwei großen Bereichen sehen wir, dass es billiger werden wird. Die Entwicklung der erneuerbaren Energien und der Elektroautos wird die Kosten im Strom- und im Verkehrssektor nach unten bringen.
Derzeit sind beide noch abhängig von staatlichen Subventionen.
Nein, nicht überall auf der Welt. Offshore-Wind in Großbritannien braucht kein Steuergeld mehr. Und die Kosten sinken weiter. In anderen Bereichen haben wir die technischen Lösungen. Wir können synthetisches Kerosin herstellen und CO2-freien Stahl produzieren. Aber beides ist noch viel zu teuer. Darum ist es wichtig, die Kosten für Wasserstoff nach unten zu bringen. Investitionen in all diese Sektoren – das ist die große Wachstumsstory des 21. Jahrhunderts. Wir müssen unsere Investitionen um zwei bis drei Prozentpunkte der globalen Wirtschaftsleistung erhöhen, um unsere Ziele zu erreichen. Das schafft nicht nur eine sauberere, sondern auch eine produktivere und effizientere Welt.
Der Wirtschafts-Nobelpreisträger William Nordhaus ist einer Ihrer größten Kritiker. Er sagt, Sie überschätzten die Kosten des Klimawandels massiv. Seine Anhänger argumentieren nun, der starke Fokus auf das Klima lenke die Welt von all den anderen Problemen ab, die es gibt – wie etwa Pandemien, Malaria etc.
Das ist eine irreführende Denkweise. Viele dieser Probleme sind miteinander verwoben. Wenn wir den Klimawandel bekämpfen, senken wir die Todesrate auf der ganzen Welt. Es werden weniger Menschen an Malaria sterben, an Denguefieber, an Luftverschmutzung, an Fluten – und auch an Migration. Es gibt kein Pferderennen zwischen dem Klimawandel und Malaria. Ökonomisch ist die Antwort auf die Klimakrise und auf die wirtschaftlichen Folgen etwa der Pandemie dieselbe: Nur Investitionen werden uns aus der Krise holen, und nur Investitionen werden die grüne Wende möglich machen.
Klimaschutz hilft der Umwelt und hebt den Wohlstand, argumentiert Lord Nicholas Stern.
Lord Nicholas Stern wurde 1946 in London geboren. Von 2000 bis 2003 war der Volkswirt Chefökonom der
Weltbank. Danach unterrichtete er an der Universität und war Berater der britischen Regierung.
Der »Stern-Report« Seinen größten Coup landete er 2006 mit dem „Stern-Report“. Erstmals wagte sich ein renommierter Ökonom an eine Schätzung der Kosten des Klimawandels. Sein Ergebnis damals: Effektiver Klimaschutz kostet ein Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Nichtstun kostet hingegen fünfbis 20-mal so viel.
Nicholas Stern war auf Einladung der Oesterreichischen Nationalbank in Wien.
Die meisten Wirtschaftsmächte sehen es ganz ähnlich. Die USA, Europa und China wollen Billionen Euro ausgeben, um „grünes Wachstum“zu generieren. Im Detail ist da aber auch viel traditioneller Infrastrukturausbau dabei. Die USA bauen etwa unter dem Label des Klimaschutzes neue Straßen. Ist das ein Etikettenschwindel?
Ich denke nicht, dass Straßen automatisch schlecht sind. Entscheidend ist in meinen Augen eher, was auf den Straßen unterwegs ist. Und wir müssen unsere Straßen so umbauen, dass es dort einfach ist, Elektroautos aufzuladen.
All die grünen Konjunkturprogramme kosten viel Geld . . .
. . . Vorsicht. Sagen Sie lieber, sie involvieren hohe Investitionen. Schließlich bringen sie auch eine hohe Rendite.
Trotzdem muss zuerst jemand Geld dafür in die Hand nehmen. Oft sind es die Staaten.
In der Pandemie hat die EU die Defizitregeln gelockert. Wünschen Sie sich das auch für den Kampf gegen den Klimawandel? Darauf kann ich nicht mit Ja oder Nein antworten. Auf unserem Weg aus den wirtschaftlich schwierigen Umständen dürfen wir zwei Fehler nicht machen. Wir müssen vermeiden, was nach der Spanischen Grippe passiert ist, als nur Konsum statt Investitionen die Wirtschaft angetrieben haben. Und wir dürfen den Fehler nicht wiederholen, den wir vor Dekaden gemacht haben, als wir zu früh auf Austerität, also eine Rückführung der expansiven Wirtschaftspolitik, gesetzt haben. Ich war Chefökonom der Weltbank, lehre mein Leben lang öffentliche Finanzen, habe Regierungen beraten, ich weiß: Fiskalpolitische Verantwortung ist enorm wichtig. Aber die Frage ist, wie verbinden wir dieses Wissen mit dem Wachstum der Wirtschaft, das wir brauchen?
Wir brauchen einen kraftvollen Fokus auf Investitionen. Wir müssen das Wachstum der Wirtschaft verwenden, um gestärkt aus der Krise zu kommen, statt jetzt voll auf die Bremse zu steigen, Investitionen zu hemmen und die Staaten mit hohen Defiziten zurückzulassen. Die meisten Investitionen werden ohnedies privat sein. Aber auch diese Investoren brauchen Klarheit von der Politik, was passieren wird.
Im Moment sind die hohen Staatsschulden wenig problematisch, weil angesichts der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken Geld de facto nichts kostet.
Trotzdem werden Investoren dieses Geld nur dann ausgeben, wenn sie sicher sein können, dass diese Form des grünen Wachstums auch wirklich stattfinden wird. Es braucht Vertrauen in Regierungen und in deren Wachstumspläne. Politik muss so sein wie die Währungshüter: vorhersagbar flexibel.
EZB-Chefin Christine Lagarde hat den Klimaschutz auf ihre Agenda genommen und will mehr grüne Anleihen kaufen. Kann das noch Aufgabe einer Zentralbank sein?
Ja. Man muss zunächst anerkennen, dass sich die Struktur der Wirtschaft in den kommenden Jahren grundlegend ändern wird, ja ändern muss. In der nächsten Dekade wird sich die weltweite Infrastruktur verdoppeln. Wenn die neue auch nur ein wenig so aussieht wie die alte, schaffen wir nicht einmal das Drei-Grad-Ziel. In dieser kritischen Phase ist das Level an Investitionen entscheidend. Und Zentralbanken haben auch die Aufgabe, Erwartungen zu generieren, wohin sich die gesamte Wirtschaft entwickeln wird. Es ist falsch zu glauben, dass die heutigen Marktpreise die Klimarisken bereits einrechnen. Die Zentralbanken müssen sich fragen, ob sie diese strukturelle Veränderung in ihren Modellen ausreichend berücksichtigen.
Aber überschreitet die EZB damit nicht ihr Kernmandat? Aufgabe der Währungshüter sind doch stabile Preise und Finanzmärkte – nicht sinkende Emissionen.
Die Stabilität der Preise und des Finanzmarktes sind die Hauptaufgaben der EZB. Aber die vom Klimawandel ausgelösten Veränderungen der Wirtschaft bedrohen sie beide. Außerdem hat die EZB auch die Aufgabe, die Politik der EU zu unterstützen. Trotzdem ist klar: Die Hauptverantwortung liegt nicht bei der Geldpolitik, sondern bei den Regierungen – und zwar konkret bei den Finanzministern und Regierungschefs. Ich bin sehr optimistisch, wenn ich denke, was wir tun können. Eine fantastische Entwicklung ist möglich. Aber ich bin in Sorge, wenn ich daran denke, was wir tun werden.