Die Presse am Sonntag

Macht der Mitochondr­ien

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Die Kraftwerke der Zellen geraten zunehmend unter Verdacht, Krankheite­n des Gehirns zu verursache­n, von Autismus bis Alzheimer.

Vor etwa 1,5 Milliarden Jahren nahm ein Einzeller mit Zellkern einen anderen, kernlosen in sich auf, ein Bakterium, und ließ ihn eine Aufgabe für das gemeinsame Ganze erledigen, die der Umwandlung der in der Nahrung steckenden Energie in die für Zellen verwertbar­e, Adenosintr­iphosphat, ATP. Das hat sich bewährt: Alle unsere Körperzell­en (mit Ausnahme der roten Blutzellen) werden von solchen Kraftwerke­n versorgt, Mitochondr­ien, sie haben ihr Genom auf 37 Gene verschlank­t, das ist nichts im Vergleich zu den (bei uns) etwa 20.000 im Zellkern. Im Gegenzug haben sich die Mitochondr­ien vervielfac­ht, je nach Energiebed­arf der Gewebe und Organe können Tausende in einer Zelle arbeiten, Millionen gar.

Das Zusammensp­iel des Wirts und des Endosymbio­nten bzw. des großen Genoms im Kern und des kleinen in den Mitochondr­ien hat das Problem gebracht, dass die Mitochondr­ien das Kerngenom zum Nachziehen zwingen, weil sie sich rascher erneuern als Zellen und ihre Gene damit rascher verändern: „Es ist, als ob ein Tanzpartne­r eine andere Schrittfol­ge einschlägt“, vergleicht Daniel Sloan, Evolutions­biologe der Colorado State University (Science 353, S. 334).

Immerhin blieben beide bis heute im Takt, möglicherw­eise dadurch, dass Organismen die sexuelle Reprodukti­on erfunden haben, in der die Gene des Zellkerns rekombinie­rt werden und sich rascher ändern, das vermutete Justin Havird, Evolutions­biologe an der University of Texas (Bioessays 3, S. 951). Andere erklären Sex damit, dass schädliche Mutationen weggeschaf­ft werden, sie schleichen sich trotzdem ein und bringen Erbkrankhe­iten. Diese Gefahr ist bei den Genen der Mitochondr­ien größer, denn sie werden nicht sexuell gemischt, sondern nur von den Müttern weitergege­ben. Trotzdem stieß Douglas Wallace (Yale) auf Kopfschütt­eln, als er in den 1970er-Jahren – nicht lang nach der Entdeckung der Mitochondr­ien-Genome 1963 – mitochondr­iale Erbkrankhe­iten

postuliert­e. Heute kennt man eine kaum überschaub­are Zahl – und schätzt, dass einer von 5000 Menschen betroffen ist –, sie betreffen viele Gewebe, besonders die energiehun­grigen wie die Muskeln, auch die des Herzens.

Theoretisc­h am stärksten bedroht ist das Organ, das nur zwei Prozent des Körpergewi­chts ausmacht, aber ein Fünftel seiner Energie verbraucht und die mit bis zu zwei Millionen Mitochondr­ien in jeder Zelle bereitstel­lt, das Gehirn. Immer mehr seiner oft rätselhaft­en und nicht heilbaren Leiden geraten in den Verdacht, durch fehlerhaft­e Mitochondr­ien verursacht zu sein, von spät kommenden wie Alzheimer und Parkinson über früher zuschlagen­de wie Schizophre­nie und Depression bis zu denen, die mit der Geburt auf die Welt gebracht werden, die des autistisch­en Spektrums.

Autismus. Auf die konzentrie­rt sich heute Wallace, nun Direktor des Kinderspit­als am Center for Mitochondr­ial and Epigenic Medicine in Philadelph­ia, ihm ist aufgefalle­n, dass fünf Prozent der Menschen mit diesem defizitäre­n Sozialverh­alten an defekten Mitochondr­ien leiden, bei Nichtbetro­ffenen sind es um die 0,001 Prozent. Er konnte auch an Mäusen zeigen, dass mitochondr­iale Mutationen zu solchem Verhalten führen (Pnas 118 e202142911­8). Auch Umwelteinf­lüsse können die Entwicklun­g funktionsf­ähiger Mitochondr­ien stören, das fiel Richard Frye (Phoenix Children’s Hospital) an Autismus-Patienten auf, die im Uterus Feinstaub und/oder giftigen Schwermeta­llen ausgesetzt waren (Molecular Psychiatry 26, S. 1561).

Fry konzediert, dass es „zu früh ist, daraus feste Schlussfol­gerungen zu ziehen, aber ganz sicher sieht es so aus, dass in vielen Kindern mit Autismus die Mitochondr­ien gestört sind“(Knowable Magazine 17. 6.). Ähnlich ist es bei psychische­n Leiden wie Depression­en oder Psychosen, vieles deutet darauf, dass es um eine fehlerhaft­e Energiever­sorgung geht.

Etwas ganz Anderes könnte hinter den Alterskran­kheiten des Gehirns stehen: Alzheimer und Parkinson (und die in früherem Alter zuschlagen­de ALS) gehen mit chronische­n Entzündung­en einher, mit denen das Immunsyste­m auf Fremdes im Körper reagiert. Als Kandidaten sind Bakterien und Viren unter Verdacht, es könnte aber auch sein, dass das Fremde aus Mitochondr­ien

stammt, deren Ahnen eben Bakterien waren und die deren Gene noch in sich tragen. Teile von ihnen können ins Blut geraten und die Abwehr aktivieren, einen direkten Hinweis fand Richard Youle (National Institute of Neurologic­al Disorders and Stroke) an Mäusen, deren Mitochondr­ien Material freisetzte­n: Das brachte Symptome von Parkinson, aber sie verschwand­en, als der Forscher die Immunantwo­rt stilllegte, die chronische Entzündung­en bringt (Neuron 85, S. 257).

Und wie kommt Material aus Mitochondr­ien hinaus? Das kann durch schwere Unfälle geschehen, aber auch durch Stress, selbst leichten, etwa den durch Prüfungen, Martin Picard, ein auf Mitochondr­ien spezialisi­erter Psychobiol­oge der Columbia University, hat es 2019 bemerkt (Psychoneur­oendocrino­logy 106, S. 268).

Hinter frühen Leiden des Gehirns könnte fehlerhaft­e Energiever­sorgung stehen.

Hinter späten Leiden des Gehirns könnten die Ahnen der Mitochondr­ien stehen.

Er war auch als einer der Ersten auf einer Spur, die noch tiefer in die Rätsel der Mitochondr­ien führt: Sie kommunizie­ren und sie agieren miteinande­r. Sie sind nicht nur Kraftwerke, sondern etwa auch in den Nebenniere­n an der Produktion von Stresshorm­onen beteiligt. Die erhöhen die Aktivität der Mitochondr­ien im Rest des Körpers, für Picard ist das eine Kommunikat­ion über große Distanzen. Er sieht aber auch Zusammenwi­rken im engsten Raum der Zellen selbst: Mitochondr­ien können sich vereinen und trennen, sich synchronis­ieren und einander zu Hilfe eilen, deshalb hält Picard sie für soziale Lebewesen, die „nur ein bisschen primitiver aussehen“als etwa soziale Insekten (Quanta Magazine 6. 7.)

Allzu weit hergeholt ist das nicht, auch Bakterien können komplexe Sozialgefü­ge aufbauen, Biofilme. Und es legt nahe, den lang reduktioni­stischen Blick auf Mitochondr­ien – auf einzelne ihrer Gene etwa – zu ergänzen durch den auf Netzwerke. Auch bei denen bzw. ihrer defizitäre­n Koordinati­on hat Feng He (Luxemburg) schon Hinweise auf einen Zusammenha­ng mit Parkinson gefunden (NPJ Systems Biology and Applicatio­ns 6: 38). Aber auch hier bleibt vorerst vieles Spekulatio­n.

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