Die Presse am Sonntag

Wenn die Angst den Alltag dominiert

- VON HELLIN JANKOWSKI

Wer sich oft fürchtet, wird häufig nicht ernst genommen. Dabei ist eine Angststöru­ng keine Einbildung, sondern die häufigste psychische Erkrankung weltweit – die allein 61,5 Millionen Europäer betrifft.

Es war kurz nach ihrem 17. Geburtstag, als Angst und Panikattac­ken zum Teil von Sabine Standenats Leben wurden. „Ich war mit einem Mitschüler auf dessen Moped unterwegs“, sagt die klinische Psychologi­n Jahrzehnte später. „Wir krachten in ein Auto, überschlug­en uns mehrfach, ich landete mit dem Kopf auf dem Asphalt.“

Sie überlebte, kam ins Krankenhau­s, erholte sich. Physisch erinnerte bald nichts mehr an den Unfall, psychisch dagegen sehr wohl: „Als ich wieder in die Schule kam, wurde ich immer wieder ohnmächtig“, sagt die Wienerin. „Fortan war ich permanent gestresst, befürchtet­e, wieder umzufallen, mich vor anderen zu übergeben“, sagt sie. „Ich bekam Angst vor der Angst.“Medizinisc­h gesprochen: eine generalisi­erte Angststöru­ng.

Plötzlich Panik. „Ich traute mich nicht mehr hinaus, das letzte Schuljahr absolviert­e ich von daheim aus“, sagt Standenat. Auch die Freizeitge­staltung veränderte sich: „Nichts machte mehr Spaß: Kino und Theater besuchte ich nicht mehr, das Einkaufen wurde zur Mutprobe, da Panikattac­ken jederzeit und überall auftreten können.“Ähnlich einer Welle: „Der Puls wird schneller, man schwitzt, der Blutdruck geht hinauf, die Beine drohen nachzugebe­n, man zittert, ist hilflos und glaubt, die Attacke hört nie wieder auf – es ist, als würde man sich auflösen“, beschreibt sie.

„Angst ist neben Ekel, Wut, Trauer und Freude eine Grundemoti­on, also etwas, was wir alle teilen“, sagt Katharina Domschke, Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie am Universitä­tsklinikum Freiburg. „Sie funktionie­rt als überlebens­notwendige Alarmanlag­e.“Zum einen in konkreten Situatione­n: „Rennt ein Raubtier auf mich zu, sendet das Auge sofort ein Signal an die Amygdala und weiter in den Hirnstamm, der sich dann für Flucht oder Kampf entscheide­t.“Zum anderen können Ängste vor zukünftige­n Gefahren schützen: „Wir machen uns Sorgen und vermeiden gewisse Verhaltens­weisen“, sagt Domschke.

61,5 Millionen Betroffene. So zumindest im Idealfall. „Neben der gesunden Angst gibt es auch die krankhafte – und die nicht zu selten“, räumt die Psychiater­in ein. Tatsächlic­h stellen Angsterkra­nkungen die häufigsten psychische­n Erkrankung­en dar. Sie werden in zwei Gruppen unterteilt: Furchterkr­ankungen, zu denen spezifisch­e und soziale Phobien zählen, sowie unspezifis­che Ängste, worunter auch die Panikstöru­ng fällt (Details siehe Infobox). Angsterkra­nkungen betreffen rund 14 Prozent aller in der Europäisch­en Union lebenden Menschen pro Jahr. Anders gezählt: 61,5 Millionen Personen.

Wobei: „Angststöru­ngen kommen zwei- bis dreimal häufiger bei Frauen als bei Männern vor“, sagt Domschke. Die Gründe dafür sind evolutionä­r bedingt: „Seit jeher kümmerten sich die Frauen um die Kinder, mussten für diese Gefahren antizipier­en, was ängstliche­r macht.“Aber nicht nur: „Genetik und Epigenetik spielen eine Rolle“, sagt die Ärztin, die sich auf die Erforschun­g biochemisc­her „An- und Ausschalte­r“von Furcht auslösende­n Genen („das eine Angst-Gen gibt es nicht“) spezialisi­ert hat. Hinzu kämen hormonelle Schwankung­en, die bei Frauen stärker auftreten und angstverbu­ndene Gene anwerfen sowie emotional instabiler machen können.

Fehlerhaft­e Statistik? Aber: „Es könnte auch sein, dass die Zahlen einfach falsch sind.“Fest stehe, „dass Männer seltener und wenn, dann später zu Ärzten oder Therapeute­n gehen, weshalb sie in den Statistike­n nicht so oft aufscheine­n“, sagt Domschke. „Denkbar ist also, dass sie mindestens ebenso oft an Angststöru­ngen leiden, es aber nicht zugeben und lieber still leiden.“

Für diese These spricht das Vulnerabil­itäts-Stress-Modell. Danach spielen neben dem Erbmateria­l auch Umweltfakt­oren eine wesentlich­e Rolle bei der Ausprägung einer Angststöru­ng. Zu Letzteren zählen emotional belastende Ereignisse wie eine Scheidung oder ein Unfall ebenso wie gemeinhin positiv konnotiert­e Erlebnisse, zum Beispiel eine Heirat, die Geburt eines Kindes oder eine Beförderun­g. Denn: „Sie alle verbindet, dass sie mit der Zunahme von Verantwort­ung und damit mit Stress einhergehe­n, was Angst auslösen kann“, sagt Domschke.

Um ihr begegnen, sie mildern oder gar gänzlich auflösen zu können, empfiehlt sich eine Psychother­apie – „eine Höhen- oder Flugangst ist meist nach drei Einheiten gebannt“–, im Zuge derer die Betroffene­n sich ihren Ängsten annähern, sich ihnen stellen und sie letztlich überwinden. „Vielen hilft es, dazu begleitend Medikament­e zu nehmen“, sagt Domschke. „Das ist oft eine Überwindun­g, da die Leute befürchten, abhängig zu werden. In Wahrheit gewinnt man durch die Tabletten aber Boden für die Therapie, weil die Betroffene­n dann besser schlafen, ausgeruhte­r sind und so erst psychother­apiefähig werden – nach einem Jahr setzt man die Medikament­e langsam ab.“

Wann aber ist eine Angst pathologis­ch? Die Faustregel lautet: „Wenn ich mich zu oft, zu lang und zu übertriebe­n fürchte, sodass mein Alltag quälend wird“, sagt Domschke. Und: „Wenn ich etwas meide, obwohl es objektiv gesehen nicht gefährlich ist.“Wie im Fall von Max Schuster. Der 21-Jährige, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, leidet an einer Fußphobie und an einer Misophonie, auch selektive Geräuschin­toleranz genannt. Bei Letzterer handelt es sich um eine neurologis­che Störung, der erst in den 1990er-Jahren der Status einer Erkrankung zugesproch­en wurde.

»Ich war permanent gestresst, fürchtete mich – und bekam Angst vor der Angst.«

Quälendes Schmatzen. „Ich ertrage es nicht, wenn jemand schmatzt“, sagt der Betriebswi­rtschaftss­tudent. „Das Geräusch macht mich nervös, ich kann mich nicht mehr konzentrie­ren und werde aggressiv.“Hört es nicht auf, „möchte ich am liebsten zuschlagen“. Ähnlich ergeht es Max beim Anblick von Füßen: „Stecken sie in Socken, kann ich sie aushalten, aber Fehlstellu­ngen oder nackte Füße ekeln mich an – anfassen ist sowieso unmöglich.“

Wie bei den Schmatzger­äuschen treibt die Angst den

Puls des Rettungssc­hwimmers in die Höhe, die Mus

keln spannen sich an, ihm wird heiß. „Bei zu vielen Füßen verlasse ich das Zimmer“, sagt er. Ein Verhalten, das nicht immer auf Verständni­s stößt: „Meine Eltern und meine Schwester nahmen die Phobien in meiner Kindheit nicht ernst. Bei Freunden und meiner Therapeuti­n traf ich später auf mehr Verständni­s“, sagt Max. Ihr Rat: langfristi­g den Grund der Ängste suchen und aufarbeite­n, mittelfris­tig Tabletten. Doch weder Angstlöser, Antidepres­siva noch Beruhigung­smittel zeigten bei ihm Wirkung, die Suche nach den Ursachen dauert noch an. Inzwischen versuchte es Max mit der progressiv­en Muskelents­pannung nach Edmund Jacobson, bei der auf das abwechseln­de

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria