»Das Leben ist kein Jammertal«
Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky entfaltet im Historienthriller »Hinterland« ein digital gemaltes Wien. Warum er die Hauptstadt gar nicht trist findet – und Netflix zwiespältig sieht.
Herr Ruzowitzky, Ihr jüngster Film, „Hinterland“, erhielt unlängst einen Publikumspreis in Locarno. Ihr Produzent und Editor Oliver Neumann freute sich bei der Verleihung darüber, dass Sie „verrückt genug“waren, den Film zu machen. Was meinte er damit? Stefan Ruzowitzky: Ich sehe das als großes Kompliment. Wir hatten beide ein bisschen Angst vor dem historischen Stoff: So etwas wird schnell bieder. Das fängt schon damit an, dass es in Wien ein paar Straßenecken gibt, die historisch wirken und zu denen jedes Filmteam marschiert. Bei der Blue-ScreenTechnik hatten wir hingegen die Möglichkeit, das Wien der 1920er ganzheitlich zum Leben zu erwecken.
Historisch akkurat kann man das digitale Wien Ihres Films aber nicht nennen . . .
Wir wollten die Innenwelt unseres Protagonisten, des Kriegsheimkehrers und Kriminalbeamten Peter Perg, nach außen stülpen. So, wie die Stadt in „Hinterland“aussieht, nimmt sie auch unser Held wahr: nicht realistisch, sondern verzerrt, schief, aus dem Lot.
Sie haben Wien schon in „Die Hölle“als Schauplatz einer brutalen Mordserie inszeniert. Lieben Sie das Morbide?
Es stimmt, dass ich oft düstere Welten zeige. Aber ich setze Helden hinein, die mit Energie und Engagement gegen die Düsternis ankämpfen. Das Leben ist für mich kein Jammertal. Ich halte mich an das Punk-Motto meiner Jugend: Du hast keine Chance. Nutze sie!
Auch Ihr Regiedebüt, „Tempo“, spielt in der Hauptstadt.
Damals wollte ich dem tristen WienBild im Kino etwas entgegensetzen. Da gab es immer nur die bösen alten Hausmeisterinnen an der Bassena. Das war nicht das Wien, das ich in den frühen 1990er-Jahren erlebte – eine moderne Großstadt, in der man zu Raves ging, wo sehr viel junge Energie spürbar war.
„Hinterland“schließt an die Tradition des „Dritten Manns“an. Wien wirkt dort wie eine Stadt, in der das Grauen in allen Gassen lauert. Dank Serien wie „Freud“und
„M – Eine Stadt sucht einen Mörder“feiert diese Fantasie nun ein kleines Comeback. Das hat viel mit dem historischen Erbe zu tun. Bei einer Stadt mit so viel Vergangenheit wundert es nicht, dass auch die unschönen Seiten ihrer Geschichte in finsteren Ecken erhalten bleiben. Damit kann man spielen.
Was sind die größten Herausforderungen beim Dreh mit digitalen Kulissen?
Man muss sehr viel mitdenken – und wird gleichzeitig von den Möglichkeiten überwältigt. Wenn ich vor Ort drehe, gibt es konkrete Einschränkungen, die mir kreative Lösungen abverlangen. Wenn ich hingegen frei bestimmen kann, wie viele Kirchtürme ich im Hintergrund aufstelle, fällt es oft schwer, auf Schiene zu bleiben.
Und was ist mit der Stimmung am Set? Fehlt es da nicht an Atmosphäre?
Wir hatten eine Faustregel: Alles, was die Schauspieler berühren, musste da sein – Tische, Sessel, manchmal auch Kulissenelemente.
Im Locarno-Katalogtext zu „Hinterland“meinen Sie, es ginge in Ihrem Film um „toxische Männlichkeit“. Ist das ernst gemeint? Es ist ein Modebegriff, aber er passt. Perg, ein Alphamännchen – und kaum jemand spielt diesen Typus so überzeugend wie Murathan Muslu – empfindet die Nachkriegszeit als persönliche Demütigung. Er und seine Mitsoldaten reagieren auf diese gefühlte Schande mit Aggression, schließen sich extremistischen Bewegungen an, zerstören andere oder sich selbst.
Alphamännchen haben lang auch die Filmindustrie angeführt. Jetzt gelten sie als Auslaufmodell. Wie stehen Sie zu Gleichstellungsmaßnahmen wie dem „Gender Budgeting“bei Fördervergaben des Filminstituts? Da gab es viele Diskussionen, vor allem im Regieverband. Ich persönlich bin nicht ganz glücklich mit dem Modell, weil ich finde, dass das Problem weniger als früher an struktureller Benachteiligung liegt: Die Projektkommissionen sind oft überwiegend weiblich besetzt, Frauen stehen zentralen Förderstellen
vor. Wichtiger wäre es, gezielt Regisseurinnen, die nach der Filmschule Kinder bekommen, in der Branche zu halten und zur Einreichung größerer Projekte zu bewegen.
Sie haben für die deutsche Serie „Barbaren“erstmals mit Netflix zusammengearbeitet. Eine produktive Erfahrung?
Man operiert im Rahmen eines großen Konzerns, mit allen Vor- und Nachteilen. „Barbaren“war bis vor Kurzem noch die erfolgreichste nicht englischsprachige Netflix-Produktion überhaupt. Sie erreicht also ein enormes Publikum. Langsam, aber sicher gewöhnen sich auch englischsprachige Zuschauer daran, Produktionen aus anderen Ländern zu sehen – was im Kino nie richtig funktioniert hat. Leider spießen sich die Regelwerke und Erfolgsrezepte moderner Konzernkultur manchmal auch mit dem kreativen Prozess.
Sie sind ein erklärter Verfechter des europäischen Genrefilms. Sehen Sie es positiv, dass Netflix diesen nun reichlich mit Finanzmitteln versorgt?
Nur solang es für das Kino nicht eng wird. Die Coronakrise war hervorragende Werbung für die StreamingDienste, der Stellenwert der großen Leinwand ist gesunken. Aber ich finde es grundsätzlich spannend, dass die Streamer Neues ins Spiel bringen. Um Abonnenten zu gewinnen, setzen sie auf extreme Konzepte. Sie können Sachen anbieten, die beim ORF sofort eine Flut an Beschwerdeanrufen provozieren würden. Das österreichische Fernsehen würde eine koreanische Serie wie „Squid Game“nie spielen. Netflix zeigt sie – und siehe da, auch das hiesige Publikum ist begeistert.
Gibt es noch irgendein Genre, das Sie ausprobieren wollen?
Meine Frau fordert eine Romantic Comedy von mir, aber damit kann ich nicht viel anfangen. Vor Komödien an sich habe ich hingegen den allergrößten Respekt, da gibt es nämlich keine Ausreden: Entweder das Publikum lacht oder nicht. Da werde ich mich auch irgendwann drübertrauen.