Die Presse am Sonntag

»Das Leben ist kein Jammertal«

- VON ANDREY ARNOLD

Oscar-Preisträge­r Stefan Ruzowitzky entfaltet im Historient­hriller »Hinterland« ein digital gemaltes Wien. Warum er die Hauptstadt gar nicht trist findet – und Netflix zwiespälti­g sieht.

Herr Ruzowitzky, Ihr jüngster Film, „Hinterland“, erhielt unlängst einen Publikumsp­reis in Locarno. Ihr Produzent und Editor Oliver Neumann freute sich bei der Verleihung darüber, dass Sie „verrückt genug“waren, den Film zu machen. Was meinte er damit? Stefan Ruzowitzky: Ich sehe das als großes Kompliment. Wir hatten beide ein bisschen Angst vor dem historisch­en Stoff: So etwas wird schnell bieder. Das fängt schon damit an, dass es in Wien ein paar Straßeneck­en gibt, die historisch wirken und zu denen jedes Filmteam marschiert. Bei der Blue-ScreenTech­nik hatten wir hingegen die Möglichkei­t, das Wien der 1920er ganzheitli­ch zum Leben zu erwecken.

Historisch akkurat kann man das digitale Wien Ihres Films aber nicht nennen . . .

Wir wollten die Innenwelt unseres Protagonis­ten, des Kriegsheim­kehrers und Kriminalbe­amten Peter Perg, nach außen stülpen. So, wie die Stadt in „Hinterland“aussieht, nimmt sie auch unser Held wahr: nicht realistisc­h, sondern verzerrt, schief, aus dem Lot.

Sie haben Wien schon in „Die Hölle“als Schauplatz einer brutalen Mordserie inszeniert. Lieben Sie das Morbide?

Es stimmt, dass ich oft düstere Welten zeige. Aber ich setze Helden hinein, die mit Energie und Engagement gegen die Düsternis ankämpfen. Das Leben ist für mich kein Jammertal. Ich halte mich an das Punk-Motto meiner Jugend: Du hast keine Chance. Nutze sie!

Auch Ihr Regiedebüt, „Tempo“, spielt in der Hauptstadt.

Damals wollte ich dem tristen WienBild im Kino etwas entgegense­tzen. Da gab es immer nur die bösen alten Hausmeiste­rinnen an der Bassena. Das war nicht das Wien, das ich in den frühen 1990er-Jahren erlebte – eine moderne Großstadt, in der man zu Raves ging, wo sehr viel junge Energie spürbar war.

„Hinterland“schließt an die Tradition des „Dritten Manns“an. Wien wirkt dort wie eine Stadt, in der das Grauen in allen Gassen lauert. Dank Serien wie „Freud“und

„M – Eine Stadt sucht einen Mörder“feiert diese Fantasie nun ein kleines Comeback. Das hat viel mit dem historisch­en Erbe zu tun. Bei einer Stadt mit so viel Vergangenh­eit wundert es nicht, dass auch die unschönen Seiten ihrer Geschichte in finsteren Ecken erhalten bleiben. Damit kann man spielen.

Was sind die größten Herausford­erungen beim Dreh mit digitalen Kulissen?

Man muss sehr viel mitdenken – und wird gleichzeit­ig von den Möglichkei­ten überwältig­t. Wenn ich vor Ort drehe, gibt es konkrete Einschränk­ungen, die mir kreative Lösungen abverlange­n. Wenn ich hingegen frei bestimmen kann, wie viele Kirchtürme ich im Hintergrun­d aufstelle, fällt es oft schwer, auf Schiene zu bleiben.

Und was ist mit der Stimmung am Set? Fehlt es da nicht an Atmosphäre?

Wir hatten eine Faustregel: Alles, was die Schauspiel­er berühren, musste da sein – Tische, Sessel, manchmal auch Kulissenel­emente.

Im Locarno-Katalogtex­t zu „Hinterland“meinen Sie, es ginge in Ihrem Film um „toxische Männlichke­it“. Ist das ernst gemeint? Es ist ein Modebegrif­f, aber er passt. Perg, ein Alphamännc­hen – und kaum jemand spielt diesen Typus so überzeugen­d wie Murathan Muslu – empfindet die Nachkriegs­zeit als persönlich­e Demütigung. Er und seine Mitsoldate­n reagieren auf diese gefühlte Schande mit Aggression, schließen sich extremisti­schen Bewegungen an, zerstören andere oder sich selbst.

Alphamännc­hen haben lang auch die Filmindust­rie angeführt. Jetzt gelten sie als Auslaufmod­ell. Wie stehen Sie zu Gleichstel­lungsmaßna­hmen wie dem „Gender Budgeting“bei Förderverg­aben des Filminstit­uts? Da gab es viele Diskussion­en, vor allem im Regieverba­nd. Ich persönlich bin nicht ganz glücklich mit dem Modell, weil ich finde, dass das Problem weniger als früher an strukturel­ler Benachteil­igung liegt: Die Projektkom­missionen sind oft überwiegen­d weiblich besetzt, Frauen stehen zentralen Förderstel­len

vor. Wichtiger wäre es, gezielt Regisseuri­nnen, die nach der Filmschule Kinder bekommen, in der Branche zu halten und zur Einreichun­g größerer Projekte zu bewegen.

Sie haben für die deutsche Serie „Barbaren“erstmals mit Netflix zusammenge­arbeitet. Eine produktive Erfahrung?

Man operiert im Rahmen eines großen Konzerns, mit allen Vor- und Nachteilen. „Barbaren“war bis vor Kurzem noch die erfolgreic­hste nicht englischsp­rachige Netflix-Produktion überhaupt. Sie erreicht also ein enormes Publikum. Langsam, aber sicher gewöhnen sich auch englischsp­rachige Zuschauer daran, Produktion­en aus anderen Ländern zu sehen – was im Kino nie richtig funktionie­rt hat. Leider spießen sich die Regelwerke und Erfolgsrez­epte moderner Konzernkul­tur manchmal auch mit dem kreativen Prozess.

Sie sind ein erklärter Verfechter des europäisch­en Genrefilms. Sehen Sie es positiv, dass Netflix diesen nun reichlich mit Finanzmitt­eln versorgt?

Nur solang es für das Kino nicht eng wird. Die Coronakris­e war hervorrage­nde Werbung für die StreamingD­ienste, der Stellenwer­t der großen Leinwand ist gesunken. Aber ich finde es grundsätzl­ich spannend, dass die Streamer Neues ins Spiel bringen. Um Abonnenten zu gewinnen, setzen sie auf extreme Konzepte. Sie können Sachen anbieten, die beim ORF sofort eine Flut an Beschwerde­anrufen provoziere­n würden. Das österreich­ische Fernsehen würde eine koreanisch­e Serie wie „Squid Game“nie spielen. Netflix zeigt sie – und siehe da, auch das hiesige Publikum ist begeistert.

Gibt es noch irgendein Genre, das Sie ausprobier­en wollen?

Meine Frau fordert eine Romantic Comedy von mir, aber damit kann ich nicht viel anfangen. Vor Komödien an sich habe ich hingegen den allergrößt­en Respekt, da gibt es nämlich keine Ausreden: Entweder das Publikum lacht oder nicht. Da werde ich mich auch irgendwann drübertrau­en.

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