Die Grimms und ihr verdrängter Bruder
Was am Weihnachtstag 1810 im Haus der Grimms für ein Rieseneklat passiert ist, wird wohl nie ganz geklärt werden. Hat Bruder Ferdinand da zum Entsetzen der trauten Familie seine Homosexualität deklariert? Oder enthüllte sich, dass er ein Verhältnis mit der Angetrauten seines Bruders Wilhelm hatte?
Noch Jahre später sprechen es die Geschwister in Briefen nicht offen aus. Nur von dem „größten Unglück“raunen sie untereinander, von der „Unnatur“, vom „verkehrten Leben“dieses schwarzen Schafs der Familie.
Ferdinand jedenfalls, dieser lang vergessene Ferdinand, ist wohl die Ursache dafür, dass in den letzten Jahren einige Forscher in der Familiengeschichte der Gebrüder Grimm gebohrt haben, die ja eigentlich nicht zwei, sondern fünf Brüder waren – und eine Schwester Lotte war auch noch da.
Gerechtigkeit für Ferdinand. Aber nicht nur die Lust, Familiengeheimnisse zutage zu fördern, treibt die Forscher. Das hessische Autorenduo Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz wollte mit ihrem vergangenes Jahr erschienenen Buch „Der fremde Ferdinand“eben diesem literarisch und kulturell „Gerechtigkeit nachtragen“: eine Gerechtigkeit, die, meinen sie, seine Brüder ihm verweigert hätten.
Tatsächlich hatte dieser jüngere Bruder der berühmten „Gebrüder“Jacob und Wilhelm durch den frühen Tod des Vaters weniger Bildungschancen. Als er dann begann, Märchen zu sammeln, mit Talent zu bearbeiten und zu veröffentlichen, wurde er von den Brüdern nicht ernst genommen. Er veröffentlichte unter Pseudonym, wohl um ihnen nicht in die Quere zu kommen.
Dabei tat er etwas, das Jacob und Wilhelm nur den Anschein erweckten zu tun: Er verwendete nicht nur schriftliche Quellen, sondern ließ sich tatsächlich auf seinen Reisen von Menschen alte Geschichten erzählen. Seine deutschen Volkssagen wirken wie aus einem Guss, schreiben Boehncke und Sarkowicz. Sie rufen dazu auf, dieses „bis heute unerforschte Kompendium“endlich wissenschaftlich aufzuarbeiten. Sie selbst haben mit „Der fremde Ferdinand“den Grundstein gelegt: Es ist in erster Linie eine Sammlung von Märchen- und Sagen
aus der Hand dieses von der Nachwelt vernachlässigten Grimm-Bruders.
Die Neugier auf den vernachlässigten Ferdinand scheint nun auf die ganze Familie auszustrahlen. In „Die Grimms“(Benevento Verlag, ab 19. Oktober im Buchhandel) erzählt der Salzburger Kulturwissenschaftler Michael Lemster anregend, klug und süffig eine bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende bürgerliche Familiengeschichte. Das Interessanteste daran ist aber dennoch, dass sie nicht Selbstzweck bleibt.
Eine bedrohliche Epoche. Lemster gelingt es, ein Gefühl für die Realitäten und Mentalitäten zu vermitteln, aus denen diese Märchensammlungen entstanden. Er rückt uns die Zeit des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts näher, die mit ihren rasanten Veränderungen „aus damaliger Perspektive so unübersichtlich und bedrohlich war wie unsere heutige für viele von uns.“
Heute gehören die Grimmschen Märchen zu den Urstoffen einer globalisierten Unterhaltungskultur. Sie werden in heutigen Kinderzimmern immer weniger gelesen, sind aber zugleich weltweit präsenter denn je. Erst jüngst sind zwei neue, popfeministische Cinderella-Versionen herausgekommen, ein Musicalfilm und, am Londoner Westend, ein Bühnenmusical von Andrew Lloyd-Webber.
Spindel, Mühle, Wald. Obwohl die Grundmotive dieser Geschichten in alte Zeiten weisen, war vieles davon für Grimms Zeitgenossen noch Bestandteil des Alltags. Brunnen, Spindel, Mühle, Esel, Bettler, Feld, Wald – was bedeuteten diese Märcheningredienzien im damaligen Leben? Auch über solche einzelnen Motive erschließt Lemster die Zeit der Grimms – eine schöne Idee. Der lebenswichtige Brunnen etwa konnte vor allem für Kinder immer noch den Tod bedeuten. Und immer noch trafen sich Frauen nach dem Martinstag, wenn es draußen nichts mehr zu arbeiten gab, zum Spinnen und führten dabei, so Lemster, „gemeinsam ihren Geist spazieren“. Und der Wald, in Grimms Märchen wesentlich wie bei den Dichtern der Romantik? Der war damals übernutzt, durch Kahlschlag in vielen Regionen geschwunden.
Ferdinand Philipp Grimm, 1788–1845, half seinen berühmten Brüdern beim Sammeln und veröffentlichte selbst drei Märchen- und Sagenbücher unter Pseudonymen. Jacob und Wilhelm unterstützten ihn finanziell, distanzierten sich zugleich von ihm. 2020 erschien das Buch „Der fremde Ferdinand“: ein bisschen Biografie, vor allem aber eine Sammlung seiner Märchen und Sagen.
Der Wald war ein Sehnsuchtsort, weil er fehlte – so wie das „Deutsche“. Wer die Franzosen waren, die damals großen politischen Rivalen, die deutsche Gebiete besetzten, „das konnte in Europa jedes Kind sagen“, erinnert Lemster. Wer aber waren die Deutschen? Ein politischer und konfessioneller Fleckerlteppich. Im Ersten Koalitionskrieg Frankreichs gegen die deutschen Stände hatten sich die GrimmKinder noch auf den Erdboden gelegt, um die Kanonen zu hören, mit denen Mainz beschossen wurde. Als Erwachsene gingen sie dann daran, einen „deutschen Ur-Mythus“herauszuarbeiten – sie hatten mit ihren Märchen auch eine politische Agenda. Lemster schildert sie dabei als „Meister der eleganten Pirouetten“. So erweckten sie gern den Anschein, direkt das kulturelle Gedächtnis alter Mütterchen und Bauern anzuzapfen. Tatsächlich sammelten sie schriftliche Quellen, setzten auf „Crowdsourcing“, indem sie Freunde, Bekannte und Kollegen anschrieben. Und sie sichteten jede Bibliothek, in deren Nähe sie kamen.
Geschwisterdramen und eine bedrohliche Zeit: Das Buch »Die Grimms« gräbt in der Familiengeschichte der Märchensammler – und lässt zugleich deren Welt wiedererstehen.
Auch der unbekannte Ferdinand sammelte und edierte Märchen – mit Talent.
Deutsche Märchen? Nicht nur »Dornröschen« kommt aus dem romanischen Raum.
Dort zapften sie ungeniert auch romanische Quellen an (in denen sie gern einen nordischen Ursprung vermuteten). Wenn die französische Herkunft zu offensichtlich wurde, wie bei „Blaubart“, verschwanden diese Märchen in folgenden Ausgaben.
Dornröschen, eine Italienerin? Aber auch einige verbliebene Märchen sind um nichts deutscher. „Dornröschen“etwa beruht auf einer italienischen Quelle des frühen 17. Jahrhunderts. Aufgeschrieben hat sie ein neapolitanischer Offizier und Hofmann in seinem von Boccaccio inspirierten Buch „Il Pentamerone“.
Die Verdienste der Gebrüder Grimm schmälert das nicht. Vor allem Jacob war ein Meister im Sammeln, Sichten, Ordnen und Bearbeiten, in der philologischen Arbeit. Und Wilhelm im gefällig modernisierenden Nachdichten – er war es, der den Märchen ihren einheitlichen poetischen Stil gab.
Auch erinnernswert: Grimms Märchenbücher waren auf dem Buchmarkt zunächst ein totaler Flop. Zeitgenossen fanden die Geschichten zu detailversessen, zu brutal, zu erotisch, zu unmoralisch. Viel später befanden Gutachter der alliierten Militärverwaltung, die Grimmschen Märchen hätten bei deutschen Kindern die Neigung zur Grausamkeit gefördert; sie wurden für Jahre aus den Regalen entfernt.
Umbringen konnte sie keiner. Disney lässt jetzt auf seinen „Schneewittchen“-Klassiker von 1937 einen „Schneewittchen“-Musicalfilm folgen, 2023 soll er fertig sein. Welch ungeahnte Weltkarriere haben doch diese Texte gemacht, von denen der Frühromantiker August Wilhelm Schlegel noch verächtlich sagte, sie seien nichts als eine „Rumpelkammer wohlmeinender Albernheit“. . .