»Großbritannien ist kein glücklicher Ort«
In Ihrem jüngsten Roman erzählen Sie von Billy Wilder. Was fasziniert Sie an ihm? Jonathan Coe: Ich glaube, das, was auch andere Leute fasziniert. Die Brillanz seiner Drehbücher, die Schärfe seiner Satire auf Amerika und die menschliche Natur. Ich habe aber eine spezielle Vorliebe für seine späteren Filme. Seine letzten sieben Filme waren keine finanziellen Erfolge und kamen auch bei den Kritikern dieser Zeit nicht sehr gut an. Für mich haben diese Filme an Statur gewonnen, sie sind reifer, ambivalenter, sie haben eine bittersüße Note, die ich sehr mag.
Der Roman erzählt von Figuren, die alle auf ihre Art damit kämpfen, nicht mehr gefragt zu sein. Gab es dafür einen Anlass?
Ich schreibe seit 34 Jahren Romane, bin gerade 60 geworden. Man kann die Tatsache nicht ignorieren, dass ich in der zweiten Hälfte meiner Karriere bin, um es optimistisch zu sehen. Im letzten Viertel, wenn man weniger optimistisch ist. Natürlich ist das Filmgeschäft härter als das Verlagsgeschäft. Aber mir ist sehr bewusst, dass sich Moden und Schreibstile ändern. Ich plane nicht, in Pension zu gehen und zu schreiben aufzuhören, aber mir ist bewusst, dass eine jüngere Generation antritt, für die man zur Seite treten muss.
Diese neue Generation ist nicht nur jünger, sondern auch oft weiblich und nicht weiß. Ich sehe das natürlich mit Interesse, aber, wie bei Wilder, zieht es einem auch ein bisschen den Boden unter den Füßen weg. Aber ich lese so viele neue Autoren, wie ich kann, und versuche, ein lebendiges Interesse an dem zu haben, was sie tun, statt mich von ihnen bedroht zu fühlen. Ich will keiner jener Autoren sein, die den Tod des Romans verkünden, nur weil eine bestimmte Art des Romans – die, die man selber schreibt – nicht mehr so heiß ist. Stile ändern sich, und so soll es auch sein.
Ein Thema Ihres Romans ist das Bedürfnis, gebraucht zu werden. Ist das etwas, das in unserer Gesellschaft zu kurz kommt?
Auf einer grundlegenden Ebene braucht jeder das Gefühl, für jemanden oder etwas nützlich zu sein. Viel von jener Ernüchterung, die wir in der westlichen Gesellschaft gerade erleben und die ich in meinem vorherigen Buch „Middle England“erkunde, kommt von Leuten, denen man in den vergangenen paar Jahrzehnten keine Rolle zugedacht hat, oder die ihre Rolle verloren haben. Jeder braucht einen Sinn im Leben, so einfach ist das. Ich glaube, viele Probleme des Westens stammen daher, dass Menschen das Gefühl haben, ihr Leben hätte keinen Zweck und würde von der Gesellschaft, den Politikern oder den Menschen in ihrer Umgebung nicht geschätzt. Und ja, wenn sich zu viele Menschen so fühlen, bekommen wir es mit Unruhen zu tun, wie wir gesehen haben.
Apropos „Middle England“: Wie ist die Stimmung, nach dem Brexit, in der Pandemie? Großbritannien ist im Moment kein sehr glücklicher Ort. Aber wir haben auch keine Post-Brexit-Situation, weil die Spaltung, die der Brexit aufgezeigt hat, weiter besteht, so stark wie eh und je. Umfragen zeigen, dass niemand seine Meinung geändert hat, in die eine oder andere Richtung. Die Regierung will uns natürlich glauben machen, dass sie den Brexit „erledigt“hat, um ihren Slogan zu zitieren. Man kann den Brexit nicht „erledigen“, weil das ein langer und sehr komplizierter Prozess ist, der noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dahinrumpeln wird. Ich würde sagen, Großbritannien befindet sich
Jonathan Coe wurde am 19. August 1961 in Birmingham geboren und studierte Literaturwissenschaft u. a. am Trinity College in Cambridge. Mit seinen von Humor geprägten Romanen zählt er zu den renommiertesten britischen Autoren seiner Generation.
1997 schrieb er mit „Allein mit Shirley“eine Satire über die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Thatcher-Ära.
2002 erschien mit „Erste Riten“(„The Rotter’s Club“) der erste seiner Romane über die Mitglieder einer Mittelschichtsfamilie in Birmingham. Es folgten „Klassentreffen“und zuletzt „Middle England“über die Zeit rund um den Brexit.
Im August erschien „Mr. Wilder und ich“(Folio-Verlag). Darin erinnert sich die griechischstämmige Filmmusikerin Calista an jene Wochen in ihrer Jugend, in denen sie den österreichischen Regisseur Billy Wilder als Dolmetscherin beim Dreh von „Fedora“über eine gealterte Filmdiva begleitete. derzeit in einem Zustand des Verleugnens. Wir haben eine Reihe sehr konkreter sozialer und wirtschaftlicher Schwierigkeiten, die zum Teil eine Konsequenz des Brexit sind. Wir reden von Problemen in der Lieferkette bei Nahrungsmitteln, dem Mangel an LkwFahrern, leeren Regalen im Supermarkt. Aber weil Brexiteers nicht zugeben, dass der Brexit Probleme bereitet, können diese Probleme nicht angegangen werden. Dazu hat die Pandemie alles komplizierter gemacht, weil die Leute bei jedem Problem sagen, der Grund sei nicht der Brexit, sondern die Pandemie. Und wir haben auch die Situation, dass eine Regierung, die gewählt wurde, um sich um den Brexit zu kümmern, sich jetzt um eine Pandemie kümmern muss, wofür man komplett andere Fähigkeiten bräuchte. Um es offen zu sagen: Wir haben die falsche Regierung für eine Pandemie.
Wie ist denn die derzeitige Lage? Alle beobachten den britischen Weg.
Die Regierung hat ja am 19. Juli die Restriktionen aufgehoben, Freedom Day wurde das genannt. Ein seltsamer Moment. Es war eine große, populistische Geste und Ausdruck von Vertrauen in die Menschen, die nun auf sich selbst schauen sollten und nicht mehr den Nanny State brauchen, der auf sie aufpasst. Aber gleichzeitig haben Umfragen gezeigt, dass die meisten Leute das gar nicht wollten, dass es ihnen lieber gewesen wäre, wenn es weiter gewisse Einschränkungen gegeben hätte. Ich glaube, es war ein ziemlich gefährliches Experiment, und es bleibt gefährlich, wir haben hohe Fallzahlen, 30.000 neue Fälle jeden Tag. Meine etwas pessimistische Prognose ist, dass diese Situation zur Normalität wird. Solang es einen nicht selbst betrifft, wird eine tägliche Statistik irgendwann bedeutungslos. Die einzig sinnvolle Waffe, die die Regierung
in ihrem Arsenal hatte, war die Impfung. Das hat die Zahl der Hospitalisierungen nach unten gebracht. Aber das gibt einem auch nicht viel Hoffnung für eine zukünftige Pandemie, bei der eine Impfung womöglich nicht so schnell entwickelt werden kann.
Ausgerechnet die Impfungen sorgen für die nächste Spaltung in der Gesellschaft.
Die Dinge, die in den Köpfen der Menschen vorgehen, die Geschichten, die sie sich selbst erzählen, die Täuschungen, denen sie unterliegen, sind in den vergangenen 15, 20 Jahren durch Social Media plötzlich sichtbar geworden. Ich vermute, dass es nie anders war. Aber jetzt sehen wir, was diese Menschen zu sagen haben. Für einen Schriftsteller ist das eine faszinierende Situation. Als Bürger finde ich es alarmierend, festzustellen, in welch radikal verschiedenen Welten wir leben und was für radikal unterschiedliche Wahrnehmungen der Realität wir haben. Und ich habe wirklich keine Lösung, wie man das auf Schiene bringen könnte.
Oft geht die Spaltung quer durch eine Freundschaft, eine Familie. Streiten – oder still sein um des Friedens willen?
Wir sollten immer versuchen, im Gespräch zu bleiben und den anderen Standpunkt zu verstehen. Aber ich erlebe es in meinem eigenen Freundeskreis: Wenn wir über den Brexit sprechen, sind wir bis zu einem gewissen Punkt höflich, und irgendwann stellt man fest, dass man eine undurchdringliche Wand erreicht hat – entweder man kämpft, oder man wechselt das Thema. Irgendwie müssen wir Wege finden, weniger polarisiert zu sein, weil so viele Probleme der vergangenen Jahre, inklusive Brexit, auf dieser Tendenz basieren, extreme Positionen einzunehmen. Es gibt immer weniger Bereitschaft, einen Mittelweg zu finden. Dialog
wen Sie denken, wenn Sie sich wie in „Middle England“über Schriftsteller lustig machen? Alle meine Figuren, auch die unwichtigeren, sind Versionen meiner selbst, mehr als dass sie Porträts anderer Menschen sind. In diesem Dialog zwischen dem englischen und dem französischen Autor sind beide ziemlich anmaßend und herablassend und sagen, etwas übertrieben, Dinge, die ich mich selbst schon auf Bühnen und bei Festivals sagen gehört habe.
Ich greife da nicht andere an. Ich versuche, mich selbst zurechtzustutzen.
...an
Sie sich darauf vorbereiten, eines Tages nicht mehr gefragt zu sein?
Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich die Aufmerksamkeit der Menschen so lang halten konnte. Es gibt ja noch eine andere Seite der Medaille: dass man vielleicht gar nichts mehr zu sagen hat. Ich habe 13 Romane geschrieben und Ideen für zwei oder drei weitere, und wenn sich herausstellt, dass es das war: Dann ist es gut. Dann werde ich versuchen, in Würde zu verstummen.
...ob
ist wichtiger denn je, und Schreiben, Filmemachen, Geschichten-Erzählen können da eine wichtige Rolle spielen, hoffe ich.
Das Schwarz-Weiß-Denken betrifft ja beide Seiten. Stichwort Cancel Culture: Warum sind denn die Liberalen oft so puritanisch? Liberale – und da schließe ich mich ein – leben wie alle anderen in Blasen, und die liberale Blase ist genauso ausschließend wie jede andere. Das ist einer der entscheidenden Momente in „Middle England“: Als Sophies Freund ihr erklärt, dass sie und die anderen Remainers das Referendum verlieren werden. Sie fragt, warum, und er antwortet: wegen Leuten wie dir. Das war genau das, was ein Freund zu mir gesagt hat. Er meinte nicht mich persönlich, aber Menschen wie mich. Er selbst kommt aus der Arbeiterklasse und hat das Gefühl, dass wir über seinesgleichen urteilen. Ich glaube, das ist der Schlüssel. Liberale müssen einen Weg finden, sich auszudrücken, ohne dass die Menschen, die nicht ihrer Meinung sind, sich moralisch verurteilt fühlen.
War das Billy-Wilder-Buch für Sie in gewissem Sinn eine Pause? Geht es jetzt zurück zum „State of the Nation“-Roman?
Es war ein wunderschöner Urlaub. Und ja, ich bin zurück bei der Lage der Nation. Das sage ich mit einer gewissen Müdigkeit. Es ist kein unmittelbar erfreuliches Thema, über Großbritannien 2021 zu schreiben. Aber ich werde versuchen, ein bisschen Humor und Leichtigkeit hineinzubringen.
Das versuchen Sie ja immer.
Ja. Jedes Mal glaube ich, dass ich es diesmal vielleicht nicht schaffe. Dass es einfach keine Witze gibt, die man über die aktuelle Situation machen könnte. Aber meistens klappt es doch. Darauf muss man einfach vertrauen.