So sind wir nicht! Aber wie sind wir dann?
Über ein Land, das aus ebenso vielen Teilen wie Widersprüchen besteht und dennoch irgendwie ein Ganzes ergeben soll. Politisch-pandemische Österreich-Eindrücke, gewonnen beim Auf- und Abfahren entlang der West(auto)bahn.
Wien
St. Pölten
Vielleicht ist das Wetter schuld. Denn es macht schon einen Riesenunterschied, wie man die Welt anschaut, wenn man sie häufig nur durch Dauerregen gefiltert sieht. Wie etwa in der Stadt Salzburg und rundherum. Oder verschwommen durch Nebelschleier, die die Grenze zu den Wolken aufheben. Wie ab Linz über Lindach bis hin zum Seengebiet. Oder durch von strahlender Sonne durchzogene Föhnschlieren an den häufigen Kaisertagen im Inntal zwischen Wörgl und Imst. Oder in sehr freundlichem Ambiente (zwei Drittel) und sehr tristem Ambiente (ein Drittel) über Winter. Wie innerhalb und außerhalb des Wiener Gürtels.
Doch beginnen wir der Reihe nach, während wir den Zug (ja, noch öfter nehmen wir das Auto, zugegeben) auf dem Wiener Hauptbahnhof besteigen, um die Westbahnstrecke entlang nach Innsbruck zu fahren: 18 Monate Pandemie-Ausnahmezustand haben nicht nur Politik und Gesellschaft durcheinandergeschleudert wie im Schnellwaschgang, sondern vorerst auch das gängige Bild von Österreich verändert. Die für neun selbstbewusste Bundesländer ohnehin schon zu kleine Republik ist in der Wahrnehmung weiter zerfallen. In viele widerständige Regionen mit ihren Warlord- und -ladiesGruppen, nachzuschauen auf der ampelfarbig gefleckten Coronakarte.
Neben den altbekannten Sollbruchstellen (Ost/West, Stadt/Land, Arm/Reich) wurden seit März 2020 viele neue Perforationen gestanzt quer durch alle regionalen, sozialen und weltanschaulichen Unterschiede. Kinder oder kinderlos war plötzlich so eine Gretchenfrage, an der entlang sich Allianzen gebildet haben, die man zuvor nicht für möglich gehalten hat. Denn die geschlossene Schule brachte viele Familiensysteme quer durch das Land ins Kippen. Probleme, die für Kinderlose oder jene, deren Nachwuchs schon aus dem Gröbsten raus war, kaum mehr nachvollziehbar waren.
Oder das Thema Wohnraum, auf das wir kommen, während der Zug den Bahnhof St. Pölten verlässt. St. Pölten, das selbst einen Speckgürtel hat, aber als Hauptstadt des Speckgürtelbundeslands rund um Wien noch eine ganz eigene Rolle spielt, gibt es doch sogar St. Pöltnerinnen und St. Pöltner, die zur Arbeit nach Wien einpendeln, von Hauptstadt zu Hauptstadt sozusagen. Denn kurz vor der Pandemie galt die Frage schon als beinah beantwortet, wie zeitgemäßes Wohnen in urbanen Räumen in Zeiten von fortschreitendem Klimawandel, drohendem Verkehrszusammenbruch und bodenlosem Bodenfraß auszusehen hat: Mikrowohnungen im urbanen Raum, verdichtetes Bauen, U-Bahn, Bim, Bus, Fahrrad und die Rückeroberung des öffentlichen Raums galten als der alternativlose Königsweg.
Die Pandemie brachte das verpönte Einfamilienhaus im Speckgürtel oder auch ganz und gar entfernt vom Ballungsraum aus dem politischen Schmuddeleck zurück ins Rennen. Und den Immobilienmarkt heftig in Bewegung. Häuser mit genug Platz auch für einen Lockdown zu mehrt, grüne Erholungsgebiete direkt vor der Tür, unabhängig von offenen Grenzen und Flughäfen plus eigenem HomeOffice waren nun der Schlüssel, um Leben und Arbeiten in Regionen attraktiv zu machen, die davor als höchstens landfluchttauglich galten.
Ja, die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, war der nächste Punkt, an dem sich die Geister in Tag- und Nachtgespenster schieden. Diejenigen, die auch von zu Hause aus ihrer Arbeit nachgehen konnten, hatten einen völlig anderen Blick auf die Pandemie und ihre Folgen als jene zuerst als Heldinnen und Helden gefeierten, danach aber rasch Vergessenen, die noch ohne Impfstoff in Spitälern, Schulen, Supermärkten und anderen unverzichtbaren Einrichtungen die Stellung halten und um dorthin zu gelangen oft noch auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen mussten. Viele Betroffene werden sich das wohl noch lang merken.
Auch so ein politischer Begriff, der während der vergangenen 18 Monate komplett neu aufgeladen wurde, ist jener der Ostregion. Über ihn wollen wir noch rasch sprechen, bevor unser Zug Niederösterreich verlässt, um Oberösterreich zu durchqueren. Die Ostregion wurde in der Mitte der Coronakrise
zur Schicksalsgemeinschaft, weil die Intensivbetten im Großraum zwischen den drei Bundesländern Wien, Niederösterreich und Burgenland zum nicht wegverhandelbaren gemeinsamen Nenner wurden. Nach kurzem Konsens wechselten die Protagonisten ihre Positionen. Der Wiener Bürgermeister, Michael Ludwig, übernahm vom lässigen Gesundheitsstadtrat Peter Hacker die Coronazügel und zog diese kräftig an. Bis heute steht Wien für die vorsichtigste Linie und damit in Österreich allein da. Parteikollege Hans Peter Doskozil musste sich den Vorwurf gefallen lassen, sich die Freiheit im Burgenland mit der Belegung von Wiener Intensivbetten zu erkaufen. Johanna Mikl-Leitner wählte für Niederösterreich einen Mittelweg. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, wie unterschiedlich die Interessen, sogar in einer Region sind, die von vielen, die in ihr wohnen und arbeiten, als untrennbare Einheit erlebt wird.
Linz
Der Zug hält in Linz, und dort kann man fast hören, wie Thomas Stelzer immer noch die Steine vom Herzen fallen. Ist sich seine Wiederwahl als Landeshauptmann doch gerade noch so vor der Inseratenaffäre ausgegangen, die zum Rücktritt von Sebastian Kurz als Bundeskanzler geführt hat. Doch so steuert Oberösterreich im politischen Diskurs immerhin eine neue Protestpartei bei. Die MFG könnte künftig auch bei den nächsten wie eine Impfnadel über dem Land hängenden Nationalratswahlen eine Rolle spielen. Oberösterreich hat jedenfalls für den Rest von Österreich ein eigenartiges Bild abgegeben, wie das zuvor nur Tirol in der Ischgl-Causa geschafft hat. Die niedrigste Impfquote Österreichs trotz der schweren Erkrankung von Vize-Landeshauptmann Manfred Haimbuchner von der impfskeptischen FPÖ sprechen eine klare Sprache: Hier lässt sich niemand etwas vorschreiben.
Thalgau
Inzwischen sind wir (diesmal mit dem Auto) in Thalgau abgefahren. Der Zug hält hier in der Gegend nämlich nicht, die rund 20 Kilometer bis zur Stadt Salzburg müsste man mit dem Postbus zurücklegen und dafür ähnlich viel Zeit einplanen wie für die Strecke Linz und Salzburg. Und selbst wenn, hier ist man ohne Auto aufgeschmissen. Was zusammen mit einer Ansammlung von Einfamilienhäusern doch einen ziemlich anderen Blick auf die politische Agenda ergibt als etwa in Wien. Einen echten Lockdown lässt sich niemand vorschreiben, Abstand zu halten ist hier aber auch wirklich kein Problem.
Salzburg Stadt
In der Stadt Salzburg halten wir nur ganz kurz an. Hier wurde etwas gelernt, was für viele Tourismus-Hochburgen künftig gelten wird: Man soll vorsichtig mit dem sein, was man sich wünscht. An das jahrelange Stöhnen unter dem Massentourismus wollte sich in der leer gefegten Getreidegasse niemand mehr so recht erinnern.
Telfs
Über das deutsche Eck sind wir an Innsbruck diesmal nur vorbeigefahren. Durch Tirol, ein Bundesland, das mit dem Rücken zum Land steht. Der Blick ins Oberland, nach München oder über den Brenner nach Italien gerichtet. Mit Innsbruck eine Hauptstadt, die boomt, nur in Wien sind Wohnungen ähnlich unerschwinglich wie hier. Die Brandmarkung während der Pandemie wird das Zusammengehörigkeitsgefühl mit Rest-Österreich nicht gerade verstärken. Telfs, den westlichsten Punkt unserer Reise, erreichen wir schließlich wieder mit dem Auto. Denn der Bahnhof ist auf der anderen Seite des Inntals drüben in Pfaffenhofen. Auch hier strandet man ohne Auto. Der L17 ist für die meisten Jugendlichen daher das Ticket in ein unabhängiges Leben, Elektroautos bei Monaten mit Minusgraden und Schneeketten im Kofferraum sind buchstäblich nur ein Schönwetterprogramm. Womit der Ausflug endet, wo er schon begonnen hat: beim Wetter.