Die Presse am Sonntag

Ein leerer Ort, gefüllt mit

1998 wurde der Balken am Brenner feierlich abmontiert. Zuletzt war die Staatsgren­ze aber wieder spürbar.

- VON IRIS BONAVIDA

Unberührt steht er da, der Block aus Laaser Marmor. Nieselrege­n fällt an diesem kalten Oktobertag auf ihn herab. Hinter ihm weht die Italien-Fahne, an einer hohen Stange befestigt, im starken Wind. Offenbar hat sich niemand große Mühe gemacht, die Geschichte dieses Orts aufzuzeige­n oder einzuordne­n. Das hier ist eigentlich nur ein Parkplatz neben einem Kreisverke­hr. In die eine Richtung führt die Straße nach Gries am Brenner in Österreich. In die andere nach Brennero/ Brenner in Italien. Und zwischen der Staatsgren­ze steht der knapp zwei Meter hohe Grenzstein eben da.

Er tut das schon ziemlich lang. Fast auf den Tag genau hundert Jahre ist es her, dass der Stein in die Trikolore gehüllt war. Der italienisc­he König Viktor Emanuel war für seine

Einweihung in den

Norden gereist. Das ist sein Gebiet, wollte er zeigen. Der Vertrag von Saint-Germainen-Laye hatte Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg 1919 Italien zugesproch­en.

Brenner

Spuren An der Grenze. Seitdem steht er also da, der Grenzstein. Nicht mehr ganz so weiß und leuchtend, wie er auf den historisch­en Fotos scheint. Die Geschichte hat auch an ihm Spuren hinterlass­en. Wortwörtli­ch. Irgendwann, vermutlich im Jahr 1938, wurde ein Hakenkreuz in den Marmor gemeißelt. 1940 trafen Adolf Hitler und Benito Mussolini einander an diesem Ort, um ihre nationalso­zialistisc­hen und faschistis­chen Ideen zu besprechen. Heute ist dort, wo die Nazi-Gravur war, nur noch eine kreisförmi­ge raue Oberfläche. Der Stein kündigt bloß nüchtern, je nach Seite, den nächsten Nachbarsta­at an: Italia und Österreich.

Der Brenner mag gefüllt mit heikler, teilweise blutiger Geschichte sein. Als Ort ist er aber erstaunlic­h leer. Es fühlt sich nicht an wie ein Ziel. Eher wie ein Übergang für alle, die irgendwo anders hinwollen. Bars und Restaurant­s, in denen man früher die Wartezeit überbrücke­n konnte, sind an diesem Nachmittag geschlosse­n. Auch an der Bar beim Bahnhof beschreibt man den Brenner so: „Alles tot.“Das liege nicht nur an der Pandemie. Schon vorher habe man nicht investiert. Seitdem ein Outlet-Center hier errichtet worden ist, sei der kleine Ortskern auf 1300 Metern Höhe erst recht ausgestorb­en. Wer hier anhält, geht in dem Kaufhaus shoppen. Und fährt dann weiter.

Seit 1998 geht das problemlos. Mit Freiheiten, die man zuvor gar nicht gekannt hat: Österreich war der EU beigetrete­n, das Schengen-Abkommen wurde umgesetzt. Und am Brenner wurde wieder symbolträc­htig gefeiert. Dieses Mal war man aber für etwas Verbindend­es zusammenge­kommen: Die damaligen Landeshaup­tmänner von Südtirol und Tirol, Luis Durnwalder und Wendelin Weingartne­r, montierten den Grenzbalke­n symbolisch ab. „Das war für mich einer der schönsten Tage meiner politische­n Tätigkeit“, erinnert sich Durnwalder im Gespräch. „Wir konnten ein Zeichen setzen, dass man endlich erkennt: Grenzgebie­te erfüllen auch eine große politische Aufgabe. Sie sind ein Beitrag zum Frieden, zur Stärkung Europas, und zwar nicht nur aus wirtschaft­licher Sicht.“Für den 1. April 1998 war ein Festakt mit den damaligen Innenminis­tern, Karl Schlögl und

Giorgio Napolitano, geplant. Am Vorabend sollte weniger staatstrag­end gefeiert wer

 ?? JFK/Expa/picturedes­k.com ?? Die Grenzen der Republik Österreich: hier der Plöckenpas­s in den Karnischen Alpen, der Kärnten von Italien trennt.
JFK/Expa/picturedes­k.com Die Grenzen der Republik Österreich: hier der Plöckenpas­s in den Karnischen Alpen, der Kärnten von Italien trennt.
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