Kirschen, Teufel, KPÖ: Das politisch immer wilde Graz
In der Stadt regierten blaue, rote und schwarze Bürgermeister, nun folgt wohl mit Elke Kahr eine Kommunistin. Aber sind die Grazer wirklich anders?
Viele Machthaber mussten es lernen: Mit Grazern ist nicht gut Kirschen essen. Das war bereits 1920 so, als sich hungernde Hausfrauen beim Bauernmarkt auf dem Kaiser-Josef-Platz gegen steigende Kirschenpreise wehrten. Die Situation eskalierte aber: Stände wurden umgeschmissen, Steine flogen, es kam in der ganzen Stadt zu Kämpfen zwischen sich der Bewegung anschließenden Bürgern und der Exekutive. Am Ende gab es 16 Tote. Die lokale Presse war mit Schuldzuweisung und Abgrenzung beschäftigt. „Nachklänge zum Kirschenrummel: Frau Ludmilla Angleitner ersucht uns, entgegen den Behauptungen der hiesigen sozialdemokratischen Presse festzustellen, dass sie sich an dem Kirschenrummel in keiner Art und Weise beteiligt hat. Sie sei in der Lage, diese Feststellung mit einer größeren Anzahl von Zeugen zu bekräftigen“, schrieb das dem großdeutschen Lager zugerechnete „Grazer Tagblatt“.
Rund hundert Jahre später sind nicht nur die Kirschen in Graz rot. Die KPÖ wurde bei der Gemeinderatswahl im September stärkste Partei. In der Gemeinde, in der schon Sozialdemokraten, ein blauer und zuletzt ein schwarzer Bürgermeister das Szepter in der Hand hielten, soll künftig die Kommunistin Elke Kahr eine linke Koalition anführen. Statt um Kirschen geht es um Wohnungen, Kahrs Erfolg ist auf ihrem Einsatz für Mieter gebettet. Und doch wäre es falsch zu glauben, die Grazer wären begeisterte Kommunisten. Aber warum gibt es in dieser Stadt oft so unterschiedliche Wahlergebnisse?
„Ich glaube gar nicht, dass die Grazer Wähler öfter die Partei wechseln als andere“, sagt Klaus Poier, Professor für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft an der Uni Graz. Aber die generelle Gunst der Bevölkerung für bestimmte Parteien sei hier gleichmäßiger verteilt als etwa in Wien, deswegen könne eine Partei leichter eine andere überholen. Was in Graz aber wirklich einzigartig sei, ist der Erfolg der Kommunisten, betont der Professor im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.
Dieses Unikum geht auf den früheren Grazer KPÖ-Chef Ernest Kaltenegger zurück, der schon in den 1980erJahren Leuten in Wohnungsnot half. Elke Kahr übernahm die Grazer KPÖ vor eineinhalb Jahrzehnten und setzte diese Linie fort. Ihre Partei wird, obwohl dank Proporz schon in der Stadtregierung,
zudem von Protestwählern angekreuzt. Ob das auch bei einer Bürgermeisterin Kahr so bleibt, wird spannend. Denn die Erwartung, dass es nun mit ihr ganz viele günstige Wohnungen in Graz geben werde, sei ökonomisch schwer zu erfüllen, meint Poier.
Ein Fluss als Trennlinie. Die Mur teilt Graz in zwei Teile. Der Legende nach soll der Teufel einst mit einem Gesteinsbrocken in der Hand über den Fluss geflogen sein. Er hatte den Grazern angeboten, mit Mondgebirge ihren Hausberg, den Schöckl, höher zu machen – im Austausch gegen die Seele des Erstbesteigers. Doch als der Teufel gerade wieder im Anflug auf die Steiermark war, sah er zu seinem Entsetzen eine Prozession unter sich, worauf der Teufel vor Ärger den Brocken herabschleuderte. Er zerfiel in zwei Teile, der eine bildet nun östlich der Mur den Schlossberg, der andere am westlichen Ufer der Stadt den Kalvarienberg. Aber nicht nur der Brocken wurde geteilt, auch das Wählerverhalten auf den beiden Grazer Murufern ist recht divers.
Das östliche, wohlhabendere Ufer ist traditionell der ÖVP zugeneigt, das westliche, ärmere der SPÖ. Doch längst ist die Lage komplizierter geworden. Die KPÖ landet auch in manch bürgerlichem Bezirk auf Platz eins, man wählt sie als eine Art soziales Gewissen. Die ÖVP unter dem bisherigen Bürgermeister, Siegfried Nagl, konnte ihre Wähler kaum mobilisieren. Die SPÖ schnitt bei der Gemeinderatswahl gar nur noch im einstelligen Prozentbereich ab, die FPÖ blieb gerade noch zweistellig. Dass die Grazer auch anders können, zeigte etwa die Nationalratswahl 2013: Damals war die FPÖ zweitstärkste Partei in der Stadt, knapp hinter der ersten. Das waren die Grünen. Die aber wiederum im Gemeinderat trotz zuletzt klarer Gewinne nur drittstärkste Partei sind. Geht es da wieder mit dem Teufel zu?
Die Erklärung dürfte profaner sein. Das Wahlverhalten der Grazer hänge stark vom Spitzenkandidaten ab, sagt Poier. So blieb der auch für einen SPÖPolitiker linke Langzeitbürgermeister Alfred Stingl lang – von 1985 bis 2003 – im Amt. Ebenso der vor allem in seiner Anfangszeit spürbar konservativ geprägte ÖVP-Stadtchef Nagl von 2003 bis 2021. Diese jahrzehntelangen Amtsperioden zeigen laut Poier auch, dass die Grazer Wähler gar nicht so untreu sind, wie mancherorts behauptet.
Aber beide Bürgermeister waren als Persönlichkeit populär. An Stingl hatten die Grazer noch am ehesten auszusetzen, dass sein Brillengestell wie aus längst vergangenen Jahrzehnten wirkte (eine Grazer Wochenzeitung ließ ihre Leser deswegen sogar eine neue Brille für Stingl aussuchen und übergab sie ihm). Der rote Stadtchef trat 2003 aber nicht mehr selbst zur Wahl an. ÖVPPolitiker Nagl punktete darauf beim Urnengang als junger, aufstrebender Politiker, als Kontrapunkt zum viel zitierten rot-schwarzen Stillstand. Es war jene Zeit, in der mit Wolfgang Schüssel ein ÖVP-Kanzler bundesweit am Höhepunkt seiner Popularität war, was Nagl half. Lang galt Nagl als Beweis dafür, dass die ÖVP mit frischen Ideen auch in großen Städten erfolgreich sein kann. Nach der Wahlniederlage erklärte er nun, er werde seine „schützende und helfende Hand“von Graz zurückziehen. Dies freilich stand sinnbildlich für eine im Lauf der Jahre entstandene Abgehobenheit, der die Grazer nun die Rote Karte zeigen wollten.
Dass die Stadt einst mit Alexander Götz (1973–1983) einen FPÖ-Bürgermeister hatte, war einem politischen Deal geschuldet: Die ÖVP wählte Götz zum Bürgermeister, obwohl die FPÖ nur drittstärkste Fraktion war. Aber das Dritte Lager ist in Graz historisch stark, die schwarz-rot-goldenen Flaggen auf den Gebäuden der Burschenschaften zeugen noch heute davon. So, wie auf der anderen Seite des Spektrums die Grünen in der Studentenstadt Graz besonders früh politisch Fuß fassten. Elke Kahr wiederum konnte die jetzige Wahl auch als Persönlichkeit gewinnen: Sie spendet den Großteil ihres Gehalts, ihre Bürgersprechstunden dienen vielen als Hilfestelle. Dass Kahr ideologisch durch und durch eine Kommunistin ist – zuletzt bezeichnete sie den einstigen jugoslawischen Staatschef Tito als Vorbild –, geht da in der Wahrnehmung der meisten Wähler unter.
Eine vielschichtige Stadt. Graz hat viele Seiten. Es ist die „Stadt der Volkserhebung“, in der Bürger den NS-Einmarsch schon früh herbeiwünschten (auch beim „Kirschenrummel“gab es übrigens antisemitische Ausfälle). Aber es ist auch jene Gemeinde, die von allen österreichischen Städten im Zweiten Weltkrieg die meisten Luftangriffe erleiden musste. Es ist eine Stadt mit viel Sonne, in der südliche Pflanzenarten gedeihen. Und eine, in der im Winter Nebel und Feinstaub die Bevölkerung belasten. Es ist eine Stadt zwischen echter Urbanität und provinziellem Größenwahn: „Willkommen in Wien, dem schönsten Vorort von Graz“ließ man als europäische Kulturhauptstadt 2003 in einem vor Wien aufgestellten Autobahnschild verlautbaren. Und nun ist Graz jene Stadt, in der eine Kommunistin nach ihren eigenen Worten die Demokratie ausbauen will.
„Graz darf alles“, lautet eine andere ältere Werbung der Stadt. Und da war die Politik noch gar nicht mitgemeint.