Die Presse am Sonntag

Kirschen, Teufel, KPÖ: Das politisch immer wilde Graz

- VON PHILIPP AICHINGER

In der Stadt regierten blaue, rote und schwarze Bürgermeis­ter, nun folgt wohl mit Elke Kahr eine Kommunisti­n. Aber sind die Grazer wirklich anders?

Viele Machthaber mussten es lernen: Mit Grazern ist nicht gut Kirschen essen. Das war bereits 1920 so, als sich hungernde Hausfrauen beim Bauernmark­t auf dem Kaiser-Josef-Platz gegen steigende Kirschenpr­eise wehrten. Die Situation eskalierte aber: Stände wurden umgeschmis­sen, Steine flogen, es kam in der ganzen Stadt zu Kämpfen zwischen sich der Bewegung anschließe­nden Bürgern und der Exekutive. Am Ende gab es 16 Tote. Die lokale Presse war mit Schuldzuwe­isung und Abgrenzung beschäftig­t. „Nachklänge zum Kirschenru­mmel: Frau Ludmilla Angleitner ersucht uns, entgegen den Behauptung­en der hiesigen sozialdemo­kratischen Presse festzustel­len, dass sie sich an dem Kirschenru­mmel in keiner Art und Weise beteiligt hat. Sie sei in der Lage, diese Feststellu­ng mit einer größeren Anzahl von Zeugen zu bekräftige­n“, schrieb das dem großdeutsc­hen Lager zugerechne­te „Grazer Tagblatt“.

Rund hundert Jahre später sind nicht nur die Kirschen in Graz rot. Die KPÖ wurde bei der Gemeindera­tswahl im September stärkste Partei. In der Gemeinde, in der schon Sozialdemo­kraten, ein blauer und zuletzt ein schwarzer Bürgermeis­ter das Szepter in der Hand hielten, soll künftig die Kommunisti­n Elke Kahr eine linke Koalition anführen. Statt um Kirschen geht es um Wohnungen, Kahrs Erfolg ist auf ihrem Einsatz für Mieter gebettet. Und doch wäre es falsch zu glauben, die Grazer wären begeistert­e Kommuniste­n. Aber warum gibt es in dieser Stadt oft so unterschie­dliche Wahlergebn­isse?

„Ich glaube gar nicht, dass die Grazer Wähler öfter die Partei wechseln als andere“, sagt Klaus Poier, Professor für Öffentlich­es Recht und Politikwis­senschaft an der Uni Graz. Aber die generelle Gunst der Bevölkerun­g für bestimmte Parteien sei hier gleichmäßi­ger verteilt als etwa in Wien, deswegen könne eine Partei leichter eine andere überholen. Was in Graz aber wirklich einzigarti­g sei, ist der Erfolg der Kommuniste­n, betont der Professor im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.

Dieses Unikum geht auf den früheren Grazer KPÖ-Chef Ernest Kaltenegge­r zurück, der schon in den 1980erJahr­en Leuten in Wohnungsno­t half. Elke Kahr übernahm die Grazer KPÖ vor eineinhalb Jahrzehnte­n und setzte diese Linie fort. Ihre Partei wird, obwohl dank Proporz schon in der Stadtregie­rung,

zudem von Protestwäh­lern angekreuzt. Ob das auch bei einer Bürgermeis­terin Kahr so bleibt, wird spannend. Denn die Erwartung, dass es nun mit ihr ganz viele günstige Wohnungen in Graz geben werde, sei ökonomisch schwer zu erfüllen, meint Poier.

Ein Fluss als Trennlinie. Die Mur teilt Graz in zwei Teile. Der Legende nach soll der Teufel einst mit einem Gesteinsbr­ocken in der Hand über den Fluss geflogen sein. Er hatte den Grazern angeboten, mit Mondgebirg­e ihren Hausberg, den Schöckl, höher zu machen – im Austausch gegen die Seele des Erstbestei­gers. Doch als der Teufel gerade wieder im Anflug auf die Steiermark war, sah er zu seinem Entsetzen eine Prozession unter sich, worauf der Teufel vor Ärger den Brocken herabschle­uderte. Er zerfiel in zwei Teile, der eine bildet nun östlich der Mur den Schlossber­g, der andere am westlichen Ufer der Stadt den Kalvarienb­erg. Aber nicht nur der Brocken wurde geteilt, auch das Wählerverh­alten auf den beiden Grazer Murufern ist recht divers.

Das östliche, wohlhabend­ere Ufer ist traditione­ll der ÖVP zugeneigt, das westliche, ärmere der SPÖ. Doch längst ist die Lage komplizier­ter geworden. Die KPÖ landet auch in manch bürgerlich­em Bezirk auf Platz eins, man wählt sie als eine Art soziales Gewissen. Die ÖVP unter dem bisherigen Bürgermeis­ter, Siegfried Nagl, konnte ihre Wähler kaum mobilisier­en. Die SPÖ schnitt bei der Gemeindera­tswahl gar nur noch im einstellig­en Prozentber­eich ab, die FPÖ blieb gerade noch zweistelli­g. Dass die Grazer auch anders können, zeigte etwa die Nationalra­tswahl 2013: Damals war die FPÖ zweitstärk­ste Partei in der Stadt, knapp hinter der ersten. Das waren die Grünen. Die aber wiederum im Gemeindera­t trotz zuletzt klarer Gewinne nur drittstärk­ste Partei sind. Geht es da wieder mit dem Teufel zu?

Die Erklärung dürfte profaner sein. Das Wahlverhal­ten der Grazer hänge stark vom Spitzenkan­didaten ab, sagt Poier. So blieb der auch für einen SPÖPolitik­er linke Langzeitbü­rgermeiste­r Alfred Stingl lang – von 1985 bis 2003 – im Amt. Ebenso der vor allem in seiner Anfangszei­t spürbar konservati­v geprägte ÖVP-Stadtchef Nagl von 2003 bis 2021. Diese jahrzehnte­langen Amtsperiod­en zeigen laut Poier auch, dass die Grazer Wähler gar nicht so untreu sind, wie mancherort­s behauptet.

Aber beide Bürgermeis­ter waren als Persönlich­keit populär. An Stingl hatten die Grazer noch am ehesten auszusetze­n, dass sein Brillenges­tell wie aus längst vergangene­n Jahrzehnte­n wirkte (eine Grazer Wochenzeit­ung ließ ihre Leser deswegen sogar eine neue Brille für Stingl aussuchen und übergab sie ihm). Der rote Stadtchef trat 2003 aber nicht mehr selbst zur Wahl an. ÖVPPolitik­er Nagl punktete darauf beim Urnengang als junger, aufstreben­der Politiker, als Kontrapunk­t zum viel zitierten rot-schwarzen Stillstand. Es war jene Zeit, in der mit Wolfgang Schüssel ein ÖVP-Kanzler bundesweit am Höhepunkt seiner Popularitä­t war, was Nagl half. Lang galt Nagl als Beweis dafür, dass die ÖVP mit frischen Ideen auch in großen Städten erfolgreic­h sein kann. Nach der Wahlnieder­lage erklärte er nun, er werde seine „schützende und helfende Hand“von Graz zurückzieh­en. Dies freilich stand sinnbildli­ch für eine im Lauf der Jahre entstanden­e Abgehobenh­eit, der die Grazer nun die Rote Karte zeigen wollten.

Dass die Stadt einst mit Alexander Götz (1973–1983) einen FPÖ-Bürgermeis­ter hatte, war einem politische­n Deal geschuldet: Die ÖVP wählte Götz zum Bürgermeis­ter, obwohl die FPÖ nur drittstärk­ste Fraktion war. Aber das Dritte Lager ist in Graz historisch stark, die schwarz-rot-goldenen Flaggen auf den Gebäuden der Burschensc­haften zeugen noch heute davon. So, wie auf der anderen Seite des Spektrums die Grünen in der Studentens­tadt Graz besonders früh politisch Fuß fassten. Elke Kahr wiederum konnte die jetzige Wahl auch als Persönlich­keit gewinnen: Sie spendet den Großteil ihres Gehalts, ihre Bürgerspre­chstunden dienen vielen als Hilfestell­e. Dass Kahr ideologisc­h durch und durch eine Kommunisti­n ist – zuletzt bezeichnet­e sie den einstigen jugoslawis­chen Staatschef Tito als Vorbild –, geht da in der Wahrnehmun­g der meisten Wähler unter.

Eine vielschich­tige Stadt. Graz hat viele Seiten. Es ist die „Stadt der Volkserheb­ung“, in der Bürger den NS-Einmarsch schon früh herbeiwüns­chten (auch beim „Kirschenru­mmel“gab es übrigens antisemiti­sche Ausfälle). Aber es ist auch jene Gemeinde, die von allen österreich­ischen Städten im Zweiten Weltkrieg die meisten Luftangrif­fe erleiden musste. Es ist eine Stadt mit viel Sonne, in der südliche Pflanzenar­ten gedeihen. Und eine, in der im Winter Nebel und Feinstaub die Bevölkerun­g belasten. Es ist eine Stadt zwischen echter Urbanität und provinziel­lem Größenwahn: „Willkommen in Wien, dem schönsten Vorort von Graz“ließ man als europäisch­e Kulturhaup­tstadt 2003 in einem vor Wien aufgestell­ten Autobahnsc­hild verlautbar­en. Und nun ist Graz jene Stadt, in der eine Kommunisti­n nach ihren eigenen Worten die Demokratie ausbauen will.

„Graz darf alles“, lautet eine andere ältere Werbung der Stadt. Und da war die Politik noch gar nicht mitgemeint.

 ?? Christof Hütter Photograph­y ?? Die Kommunisti­n Elke Kahr dürfte künftig in Graz eine dunkelrot-grün-rote Koalition anführen.
Christof Hütter Photograph­y Die Kommunisti­n Elke Kahr dürfte künftig in Graz eine dunkelrot-grün-rote Koalition anführen.

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