»Dialekt ist nicht vom Himmel gefallen«
Der Sprachwissenschaftler Manfred Glauninger erklärt, worin sich Vorarlberger und Wiener unterscheiden, weshalb der Dialekt vor allem in der Hauptstadt schwindet und warum Sprachwandel häufig negativ behaftet ist.
Sie beschäftigen sich unter anderem mit Wandel und Variation der deutschen Sprache in Österreich. Was macht Österreich denn in sprachlicher Hinsicht besonders? Manfred Glauninger: Die deutsche Sprache ist sehr vielfältig hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen. Das gilt auch für das Deutsche in Österreich, das zum einen durch den Kontakt mit anderen Sprachen geprägt ist. Heute ist Sprachkontakt durch Migration in vielen Ländern alltäglich. In der Habsburgermonarchie ist es aber schon vor Jahrhunderten, und somit besonders früh, zu intensiven Kontakten verschiedener Sprachen gekommen. Zum anderen spielt im heutigen Österreich der Dialekt noch immer eine große Rolle für die Menschen. Die dialektnahe Kommunikation ist also, mit Ausnahme von Wien, im Alltag nach wie vor wichtig.
Manfred Glauninger ist Soziolinguist. Er forscht an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und lehrt an der Universität Wien.
Warum ist das in Wien nicht so?
Wien ist mit zwei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt im deutschen Sprachraum. Wir sehen seit Jahrzehnten, dass in Großstädten der Dialekt abgebaut wird. Der Dialekt wird, wie jede Sprachform, je nach Situation positiv oder negativ bewertet. In Wien ist die negative Bewertung des Dialekts seit Langem prägend. Das hat, früher als anderswo, dazu geführt, dass Kinder nicht mehr im Dialekt sozialisiert werden. Gleichzeitig beobachten wir, dass der Dialekt in Wien in Kontexten abseits des Alltags umso interessanter wird, etwa in der Musik oder Werbung. Der Dialekt wird sozusagen inszeniert, um spezielle Effekte zu erzeugen.
Wirken sich diese sprachlichen Verhältnisse in Wien auch auf Gesamt-Österreich aus?
Außerhalb von Wien hat man ein ambivalentes Verhältnis zur Bundeshauptstadt. Dennoch werden, oft unbewusst, „wienerische“Sprachmerkmale übernommen. Denken Sie nur an jugendsprachliches „oida“oder „ur“. Und die sogenannte Wiener Monophthongierung, die Aussprache von „ei“als „ää“und von „au“als „oo“, breitet sich in Ostösterreich und sogar teilweise bis in die Stadt Salzburg aus. Das zeigt, dass man Wien und seinem Sprachgebrauch uneingestanden Bedeutung zuschreibt – und das seit Jahrhunderten.
Wo in Österreich wird noch am konsequentesten Dialekt gesprochen?
Mit Sicherheit in Vorarlberg, wo die sogenannten Basisdialekte, also kleinräumige dialektale Sprachformen, noch relativ stark ausgeprägt sind – obwohl sich natürlich auch dort der Dialekt verändert. Am Bahnhof in Feldkirch habe ich vor ein paar Jahren einen jungen Vater mit seinem etwa vierjährigen Kind sprechen hören, ganz selbstverständlich im örtlichen Dialekt. Stellen Sie sich eine solche Situation in Wien vor, diese ist dort undenkbar. Denn dort spricht man mit einem Kind nicht im Dialekt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.
Wie wäre das sprachlich, wenn zwei Vorarlberger nach Wien kommen und dort ein Kind bekommen?
Das ist eine spannende Frage. Eltern aus anderen Bundesländern, aus welchem auch immer, sprechen in Wien zu Hause untereinander sicher ihren Bundesländer-Dialekt. Das hören die Kinder natürlich, übernehmen es aber nicht. Mit dem Kind sprechen die Eltern meistens „Hochdeutsch“. Und spätestens im Kindergarten, wenn das Kind stärker in Kontakt mit Gleichaltrigen kommt, werden diese und der Kontext der Stadt als Ganzes als Sprachvorbilder wichtiger als die Eltern. Kinder in Wien merken dann sehr schnell, dass ihre Eltern anders sprechen. Das ist hochinteressant, vor allem wenn man das Wort „Muttersprache“wörtlich nimmt.
Sie haben vorhin eine ambivalente Haltung gegenüber dem Wienerischen angesprochen. Warum ist es so, dass sprachliche Gewohnheiten, aber auch Änderungen, häufig auf derartige Ablehnung stoßen?
Lebt man in einer Gesellschaft, der es gut geht, ist Wandel häufig generell negativ behaftet. Der Sprachwandel hängt immer unmittelbar mit dem Wandel der Gesellschaft zusammen. Menschen haben oft romantisierende, nostalgische Vorstellungen von der Vergangenheit und vom „echten“Dialekt oder „schönen Hochdeutsch“früherer Zeiten und wollen diese Sprachformen vor dem „Sterben“oder „Verfall“bewahren.
Gibt es einen „echten“Dialekt überhaupt? Nein. Sprache verändert sich ununterbrochen. Und jede Sprachform, zu jeder beliebigen Zeit, ist immer auch die Summe der Veränderungen, die vorher passiert sind. Der „echte“Dialekt, wie ihn vielleicht die Oma gesprochen hat, ist ja auch nicht vom Himmel gefallen. Auch dieser Dialekt war ein Produkt des Sprachwandels. Für Linguisten ist es selbstverständlich, dass Sprache inhärent dynamisch ist.
Wie sehen Linguisten dann die Befürchtung vieler Menschen, dass „typisch österreichische“Sprachformen, vor allem durch den bundesdeutschen Einfluss, verschwinden? Im Grunde genommen ist das paradox, denn die auf wirtschaftlicher, medialer und anderer Ebene stattfindende Verflechtung ist ja offenkundig. Wir leben im EU-Binnenmarkt und in Zeiten des Internets, da ist es logisch, dass ein sprachlicher Austausch stattfindet. Alles andere als ein intensiver kommunikativer Kontakt nicht zuletzt mit Deutschland wäre unvorstellbar. In gewisser Weise ergibt sich dabei sogar ein spezieller Mehrwert für die österreichische Bevölkerung.
Inwiefern?
Wir in Österreich wissen aus täglicher Erfahrung sehr viel über „bundesdeutsches“Deutsch, umgekehrt kennen Deutsche oft nur ein paar einzelne österreichische Begriffe, haben aber im Alltag wenig mit der deutschen Sprache in Österreich zu tun. Ich glaube also, dass Österreicher im Durchschnitt ein größeres Repertoire in Bezug auf die deutsche Sprache haben. Für mich ist es auch deshalb weder wünschenswert noch realistisch, dass man sprachpuristische oder abgrenzende Aktivitäten setzt.